Bereits 100 Fälle

Lebende Fackeln gegen chinesische Herrschaft in Tibet

Ausland
14.02.2013 12:00
Über Jahrzehnte protestierten Tibeter auf den Straßen, saßen im Hungerstreik und baten die Welt um Hilfe. Nun sehen viele jedoch keine andere Lösung mehr, als sich anzuzünden. Sie rufen aus den Flammen, um auf das Schicksal ihres Volkes aufmerksam zu machen. Seit 2009 wählten genau 100 Menschen die Selbstverbrennung, um auf die Ungerechtigkeit der chinesischen Herrschaft über ihr Land hinzuweisen.

Alles begann mit einem tibetischen Mönch, der sich vor vier Jahren mit Benzin übergoss und anzündete. Bald darauf verbrannte sich eine junge Mutter von drei Kindern, es folgten ein 15-Jähriger aus dem Kloster Ngoshul und der Großvater eines spirituellen Lehrers. Mit dem Selbstmordversuch eines jungen Mannes in Nepals Hauptstadt Kathmandu, der am Mittwoch in ein Restaurant lief, sich mit Benzin übergoss und in Brand steckte, umfasst die Liste der Selbstanzündungen mittlerweile exakt 100 Namen, teilte das Büro des Dalai Lama, des geistlichen Oberhaupts der Tibeter, am Donnerstag mit.

Die Botschaft der letzten Worte: "Beschützt Tibet"
Immer wieder taucht dieselbe Forderung in den letzten Worten der Sterbenden auf: "Beschützt unsere tibetische Sprache, Kultur und Religion - unsere Identität." "Wir brauchen Freiheit und Unabhängigkeit für Tibet", rief laut der Internationalen Tibetkampagne etwa der 19-jährige Norbu Damdrul, während er brennend durch die Straße in Ngaba rannte. Die 33 Jahre alte Rikyo wiederum hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem sie wie viele andere Tibeter die Rückkehr des Dalai Lama aus dem Exil forderte. Und sie schrieb: "Wehrt euch nicht durch Kämpfe. Steht zusammen, lernt die tibetische Kultur."

Seit Jahrzehnten fühlen sich die Tibeter von den Chinesen unterdrückt. Sie beklagen, dass ihnen die chinesische Sprache aufgezwungen wird, sie ihren Bezirk nicht ohne Genehmigung verlassen dürfen und schlechter bezahlt werden als Chinesen. Mittlerweile, berichten Exiltibeter, habe die Regierung so viele Chinesen in tibetische Gebiete umgesiedelt, dass die Tibeter in ihrer Heimat sogar eine Minderheit bildeten.

"Tragischste Form des Protests"
Vor mehr als 50 Jahren verließ der Dalai Lama mit Zehntausenden Begleitern das größte Hochland der Erde. Heute leben etwa 128.000 Tibeter in der Diaspora, ihren Sitz hat die Regierung im nordindischen Dharamsala. Der tibetische Premierminister Lobsang Sangay hält die Selbstverbrennungen für die "tragischste Form des Protests". "Dass sie den Tod dem Leben vorziehen, zeigt, wie sehr die Tibeter unterdrückt werden und wie sehr sie leiden", sagt Sangay. Das seien grelle Stimmen gegen die Herrschaft der Chinesen.

Die Behörden in Peking hingegen machen den Dalai Lama und die exiltibetische Gemeinde für die Selbstverbrennungen verantwortlich. Die Protestakte seien aus dem Ausland sorgfältig vorbereitet und orchestriert, heißt es in offiziellen Erklärungen. Heftig kritisiert wird auch, dass die Tibeter, die sich selbst verbrennen, als "Helden" verehrt werden.

"Sie sind unsere Helden", betont Tenzin Chokey, Generalsekretärin des Tibetischen Jugendkongresses. "Sie haben es verdient, so genannt zu werden, also nennen wir sie auch so." Die Tibeter in Tibet bräuchten allerdings niemanden, der sie anstifte. "Wir ermutigen sie nicht. Im Gegenteil: Sie ermutigen uns."

"Es gibt keine Foltermethode, die nicht angewendet wird"
Die chinesischen Behörden reagieren auf die Selbstverbrennungen meist mit einer Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen und noch mehr Soldaten. Häufig wird die Kommunikation in der Gegend unterbrochen - in Rebkong in der Provinz Qinghai wurden gerade Hunderte von Satellitenschüsseln konfisziert und zerstört, mit denen ausländische Fernsehsender empfangen werden konnten. Auch das Internet wird gekappt, Telefone werden abgehört. Tibeter werden festgenommen und oft jahrelang nicht mehr freigelassen.

"Sie kommen dann in die Militärbasen, werden auf einen Stuhl gefesselt, und Soldaten laufen tagelang um sie herum und lassen sie nicht schlafen", berichtet der Mönch Kanyang Tsering. "Und wenn sie doch einschlafen, benutzen sie elektrische Stäbe, um sie aufzuwecken." Tsering sammelt im Kirti-Kloster in Dharamsala Informationen aus seiner alten Heimat, der Region Ngaba, in der sich besonders viele Menschen anzünden.

Tsering holt weit aus mit seinen Armen, die in einer dunkelroten Robe stecken, wenn er die Schläge beschreibt, die den Gefangenen beim Spießrutenlauf drohen. "Manche werden auch an Kaminrohre gebunden, die das Haus erwärmen", sagt er. Andere, die sich vor Schmerzen nicht mehr bewegen könnten, würden auf Metallbleche gelegt, unter denen ein Feuer brennt. "Es gibt keine Foltermethode, die nicht angewendet wird", sagt er niedergeschlagen.

Kampfgeist bis in den Tod
"Die Chinesen kennen nur Stärke", sagt der Repräsentant des Dalai Lama in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi, Tempa Tsering. Und doch seien sie seit drei Generationen in Tibet nicht erfolgreich. Denn sein Volk habe immer neue Wege gefunden, um für seine Rechte zu kämpfen. "Sie versuchten alle friedlichen Wege, etwa Proteste und Hungerstreik - und dafür wurden sie unterdrückt, gefoltert, getötet." Nun seien die Tibeter so verzweifelt, dass sie mit ihrem eigenen Tod kämpften. Ein 21 Jahre alter Mönch, der seinen Zimmerkameraden durch eine Selbstverbrennung verlor, ergänzt: "Normalerweise zünden wir eine Lampe an, um etwas zu sehen. Mein Freund zündete sich an, um die Situation der sechs Millionen Tibeter zu beleuchten."

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