Konzert und Interview

Sängerin Feist lud zum progressiven Kulturabend

Wien
01.09.2023 01:01

Sechs Jahre nach ihrem letzten Österreich-Auftritt beim damaligen „Out Of The Woods“-Festival in Wiesen zeigte sich die kanadische Indie-Königin Feist Donnerstagabend vor nur rund 1500 Fans im Wiener Gasometer vielseitig. Der Kulturabend versuchte ein Konzerterlebnis neu zu denken und mäanderte zwischen Bandkonzert, Gedichtabend und chamäleonhafter Sprünge von A nach C. Ein nicht restlos geglücktes, aber in jedem Fall faszinierendes Ereignis.

Einen Konzertabend neu zu denken, etwas noch nicht Gesehenes einfließen zu lassen und damit die Leute zu überraschen - danach streben viele Künstler. Die kanadische Indie-Königin Leslie Feist versucht es zumindest. Bei ihrem ersten Österreich-Auftritt nach mehr als sechs Jahren kommt sie im blauen Kleid und mit roten Stiefeln samt Handykamera in der Hand von der Seite in die Halle und marschiert durch die Menge. Sie filmt Pullis, Hosen und Schuhe, stellt sich auf die nur minimal erhöhte B-Stage in der Mitte des Gasometers und steigt ganz alleine mit Stimme und Akustikgitarre in den Abend ein. Die Idee dazu kam ihr schon während der Pandemie, wie sie der „Krone“ beim Interview vor dem Konzert erklärte. „Intern nennen wir sie ,1.0 Konzerte‘. Wir haben 2021 in Hamburg, Kanada und den USA solche Gigs gespielt. Sie waren wie ein sozialistisches Experiment nach dem Egalitätsprinzip, wo alle anwesenden Menschen gleich waren. Heute, wo die Welt wieder offen ist, fühlt sich das an wie eine süße kleine Flaschenpost, die romantisch daherschwimmt, aber eigentlich nicht mehr von Belang ist.“

Längen im ersten Konzertteil
In den nun großen Hallen auf der aktuellen Tour zeigt sich Feist dabei trotzdem ungeschützt und offen, so wie es auch die Songs ihres im vergangenen Frühling erschienenen Albums „Multitudes“ sind. Während sie mit wechselnder Mikrofonposition Lieder wie „Gatekeeper“, „The Redwing“ und „Martyr Moves“ zelebriert, wandert ein Crewmitglied mit der Kamera durch die Gasometer-Halle, um Menschen, Barrikaden, den Boden oder Handyhintergründe auf die Leinwand vor der Hauptbühne zu beamen. Am Ende holt der vermeintliche „Fan“ ein Notizbuch aus einer Tasche, das sich als Feists Gedicht- und Songtextband erweisen sollte. Die Künstlerin wechselt zwischen Liedgut und Gedicht hin und her, zuweilen wirkt die artifizielle Chose aber schon zu bemüht und klangschalenesoterisch. Nach einer knappen Stunde wünscht man sich trotz aller sympathischen Witze und stimmlichen Höchstleistungen endlich etwas Wumms und Feuer. Eben die „2.0 Konzerte“, wie sie ihre Gigs mit Band nennt.

„Die Nahbarkeit des Akustikteils ist mir wichtig. Für eine kurze Zeit herrscht ein kollektives Gefühl des Aufatmens und der Erleichterung. Ich bin einerseits sehr introvertiert, andererseits aber offen und greifbar für alle anderen. Ich spiele gerne mit dieser Dualität und deshalb sind die Konzerte auch wie eine Aufführung in verschiedenen Akten. Nach der Pandemie mussten wir wieder lernen, miteinander zu kommunizieren und uns im Alltag zu bewegen. So wollte ich auch Konzertabende etwas neuer definieren. Anders wäre es vielleicht leichter gewesen, so war es aber interessanter.“ Der Konzertabend ist eine interessante Mischung aus Musik, Theater, Stand-Up-Comedy und Nostalgieverehrung. Feist verknüpft ihre Fans mit ihren Songtexten, baut diese Erkenntnisse interaktiv in das audiovisuelle Gesamtpaket ein und vermittelt damit ein Rundum-Erlebnis, das in Nuancen noch hinkt, aber bereits andeutet, wie man einen solchen Abend zukünftig von der althergebrachten Routine des Spiels „Band spielt vor Publikum“ entstauben könnte.

Entblößt und dekorativ
Die große Hit-Revue ist Feists Rückkehr nach Europa nicht. Erfolgreiche Singles wie „Mushaboom“, „Home Come You Never Go There“ oder „I Feel It All“ bleiben unberücksichtigt. „Mein aktuelles Album ,Multitudes‘ hat im Prinzip entschieden, welche meiner älteren Songs dazupassen. Manche davon musste ich neu arrangieren, damit sie in das Set passen“. So ist etwa die bekannte Single „1234“ elektronisch-melancholischer angelegt und auch in anderen Songs werden diverse Facetten an die intime Entrücktheit des aktuellen Werks angepasst. „Multitudes“ war ein Manifest des Persönlichen und behandelte Feists Achterbahnleben der letzten Jahre. Die Adoption ihrer heute vierjährigen Tochter, der Tod des geliebten Vaters, die mit Existenzängsten beladene Pandemie. „Zudem pendelte ich mit meiner Kleinen durch die Gegend und fand keinen Platz, an dem ich mich wohlfühlte. Ich hatte immer eine Gitarre mit Nylonsaiten bei mir und dafür noch nicht einmal einen Koffer. Die Ursprungsversionen mancher Lieder auf ,Multitudes‘ zeigten mich entblößt bis auf die Knochen. Erst durch meine Band haben sie die Dekoration erhalten, die sie verdienen.“

Ihre vierköpfige Band kommt im Gasometer dann in der etwas längeren zweiten Konzerthälfte zur Geltung. Ohne der Chefin das Rampenlicht zu stehlen, veredeln sie mit ihrer unaufgeregten, aber kompetenten Herangehensweise Songs wie „My Moon My Man“, das eruptive „A Commotion“ oder das von Feist in stimmliche Höchstsphären transportierte „In Lightning“. Der Sprung von der Soloeinlage zum Bandkonzert gelang übrigens mit einem Geniestreich. Das neue „I Took All Of My Rings Off“ verwandelt sich bei der Transformation der Show von einem lieblichen Sprechgesang zum eruptiven Alternative-Statement in voller Besetzung. „Das Prinzip unserer Liveshow ist, dass immer etwas Unerwartetes und Unberechenbares passiert. Man wird von diesem Set nicht umgehauen oder weggeblasen, aber jedes kleine Detail reißt die Leute ein bisschen aus den gewohnten und festgefahrenen Positionen und fühlt sich dadurch auch für mich groß an.“

Erwachsenwerden auf die harte Tour
Während für andere Acts das Live-Darben mit dem Pandemieende beendet war, zog es sich bei Feist weiter. Vor ziemlich genau einem Jahr entschied sie sich, die Tournee als Support von Arcade Fire zu verlassen, nachdem Sänger Win Butler von mehreren Seiten sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde. Ein Gang durchs Stahlbad. „In diesem Moment verstand ich in meinem Leben das erste Mal eine gewisse Verantwortung. Verantwortung gegenüber meiner Crew, meiner Community und auch meiner Tochter. Eine Konzerttour ist jetzt nicht wichtig, aber da ging es um etwas Größeres. Nämlich, dass solche Aktionen wichtig sind und nachhallen. Dass man Themen nicht einfach aussitzen und ignorieren kann, weil sie dadurch noch mehr Schaden verursachen. Dieses Ereignis und meine Entscheidung, die ich danach gefällt habe, haben sich ein bisschen wie Erwachsenwerden angefühlt.“ In ihrem Statement suchte Feist nach der richtigen Balance und lernte weiter.

„Das Leben ist nicht nur schwarz oder weiß, sondern beinhaltet viele Graustufen. Wenn du nicht genau Bescheid weißt, dann tritt einen Schritt zurück und warte ab, bis die Situation geklärt ist. Mir war es in diesem Fall immer wichtig, nicht zu urteilen und zu richten, das ist nicht meine Aufgabe. Der Vorfall war nicht meine Geschichte, aber ich wollte auch kein Teil davon sein.“ Mittlerweile hat sie sich von den kleinen und großen Dramen der jüngeren Vergangenheit gelöst. Das kommt besonders in publikumswirksamen Songs zur Geltung. Etwa im feurigen Traditional „Sea Lion Woman“, bei dem das reservierte Wiener Publikum spät, aber doch in Fahrt kommt oder auch „Any Party“, wo Feist mit Wortwitz und spontanen Textadaptionen die Herzen der Fans gewinnt. Mehr als zwei Stunden dauert ihre Show, die zwischen sensibler Entschlackung und ausufernder Fröhlichkeit alles bietet, was die menschliche Emotionspalette so hergibt.

Neue Form von Heimat
„Seit ich meine Tochter habe, sehe ich die Welt mit anderen Augen. Ich habe früher gerne Tomaten gepflanzt, ging dann aber auf Tour und das Gemüse verendete. Nun habe ich sie aber gegossen und gepflegt und dann geerntet. Wenn ich heute im Tourbus sitze und aus dem Fenster schaue, sehe ich Einfamilienhäuser mit großen Gärten und Wäscheleinen. Ich stelle mir dann vor, wie schön es doch sein muss, sich um so ein Heim zu kümmern. Bislang habe ich mich immer nur um die Musik gekümmert.“ Das Nomadentum hat sie mittlerweile fast abgelegt. Sommers residiert sie in Kanada, im Winter in Kalifornien. „Irgendwann wird das auf einen Platz zusammenschrumpfen“, lacht sie, „aber wenn ich mir ansehe, wie ich in den letzten Jahren so gelebt habe, dann fühlen sich auch zwei Orte wie Stillstand an.“ Mit den Balladen „Love Who We Are Meant Do“ und das von den Fans lautstark mitintonierte „Intuition“ beendet Feist einen üppigen Kulturabend nach mehr als zwei Stunden. Für ihre treuen Indie-Fans eine Messe, für Interessierte ein Ausflug der etwas anderen Sorte. Wenn Feist will, ist sie noch immer die Königin ihrer Zunft - jetzt auch mit sich und der Welt im Reinen.

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