großer nachholbedarf

Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr?

Vorarlberg
19.06.2022 09:30

Vorarlberg hinkt in Sachen Kinderbetreuung weit hinterher. In Deutschland gibt es seit neun Jahren die Möglichkeit, Kinder ab dem ersten Lebensjahr in Betreuung zu geben.

Kind und Job unter einen Hut zu bringen, ist gerade in Vorarlberg ein enormer Kraftakt. Lediglich 27,7 Prozent der unter Dreijährigen haben laut der jüngsten Erhebung einen Platz in einer Kinderbetreuungseinrichtung. Es hapert zudem bei den Öffnungszeiten, angesichts der vielen Schließtage kann von einem lückenlosen Betreuungsangebot keine Rede sein. Da der Ausbau nur sehr schleppend vorangeht, lohnt sich ein Blick nach Deutschland, wo die Betreuungsinfrastruktur weit besser ausgebaut ist. Das hängt auch damit zusammen, dass es bei unseren Nachbarn seit Jahren einen Rechtsanspruch auf eine ganztägige Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr des Kindes gibt: „Der Rechtsanspruch in Deutschland hat eine massive Ausbauwelle in Gang gesetzt“, berichtet der renommierte Erziehungswissenschaftler Thomas Rauschenbach, ehemaliger Direktor des Deutschen Jugendinstituts, wo hunderte Experten und Professoren rund um das Thema forschen. Eine vergleichbare Einrichtung gibt es in Österreich nicht, weshalb der Politik häufig die Expertise fehlt.

Daher haben der ÖGB Vorarlberg und die Arbeiterkammer Vorarlberg Rauschenbach vor Kurzem ins Ländle eingeladen, um im Rahmen eines Vortrags mit rund 50 Personen vom Fach über den Rechtsanspruch zu diskutieren. Von der Landesregierung war übrigens niemand anwesend. Ein Rechtsanspruch - auch wenn er von vielen Seiten gefordert wurde - ist auch im neuen Vorarlberger Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz nicht vorgesehen. „In Deutschland würde heute kein einziger Politiker die Schraube zurückdrehen wollen“, hielt Rauschenbach dazu fest. Er befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Kinderbildung und berät ebenso lange die Politik. Auch wenn der Weg steinig gewesen sei, gäbe es in Deutschland mittlerweile einen breiten Konsens darüber, dass der 2013 eingeführte Rechtsanspruch ein wichtiger und richtiger Schritt war. Rauschenbach nannte vor allem drei positive Effekte: Die Beschäftigungsquote von Frauen stieg deutlich an, es wurden mehr als 300.000 neue Arbeitsplätze geschaffen und die Bildungschancen der Kinder erhöhten sich.

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Der Rechtsanspruch in Deutschland hat eine massive Ausbauwelle in Gang gesetzt

Thomas Rauschenbach

Ohne Investitionen keine lückenlose Betreuung
Seit 2013 werden in Deutschland pro Jahr in etwa 40.000 neuen Einrichtungen gebaut - auf Österreich umgelegt, wären das rund 4000. Natürlich ist ein derart massiver Ausbau ein gewaltiger finanzieller Kraftakt. Weshalb sich bei den Kommunen die Euphorie am Anfang in Grenzen hielt. Das änderte sich erst, als der Bund versprach, die Gemeinden mit signifikanten Subventionen zu unterstützen. Ein zweites Problem waren die fehlenden Fachkräfte. Neben einer Ausbildungsoffensive setzte sich vor allem die Gewerkschaft dafür ein, dass der Beruf attraktiver gemacht wird. Auch die Arbeitsämter rührten ordentlich die Werbetrommel. Der Erfolg war durchschlagend, der Bereich der Elementarpädagogik wurde sukzessive aufgewertet. Dabei hatte Deutschland einst mit den gleichen Problemen wie aktuell Vorarlberg zu kämpfen. Eines der größten Defizite im Ländle: Viele Absolventen der Bildungsanstalt für Elementarpädagogik üben den erlernten Beruf gar nie aus. Lediglich rund ein Viertel arbeitet laut der Gewerkschaft younion nach der Ausbildung in einer Betreuungseinrichtung. „Beim Gehalt müsste es in Richtung Grundschulpädagogen gehen, sonst braucht man sich über die hohe Ausstiegsquote nicht wundern“, hält Rauschenbach dazu nüchtern fest. Parallel dazu brauche es attraktivere Rahmenbedingungen: „Der Personalschlüssel - also wie viele Pädagogen kommen auf wie viele Kinder - hat sich im Laufe der Jahre in Deutschland stetig verbessert.“

Die Ausgaben fließen wieder ins Budget zurück
Die Treiber für einen Rechtsanspruch in Deutschland waren interessanterweise vor allem die Bundestagsfraktionen. „Überzeugt haben sie die wirtschaftlichen Argumente. Der Ausbau trägt sich nämlich selbst. Die Ausgaben fließen über andere Wege wieder ins Budget zurück. Die Sozialabgaben, die Einkommen und damit die Kaufkraft der Menschen sind gestiegen, die Beschäftigung hat zugenommen und die Arbeitslosigkeit ist zurückgegangen.“ Neben dem politischen Willen verlangt die Einführung eines Rechtsanspruches eine genaue Planung: „Der Bedarf muss ganz genau erhoben werden. Es braucht neben der Infrastruktur eine genaue Finanz- und Personalplanung. Das dauert Jahre. Darüber muss man sich im Klaren sein.“ Auch wenn Deutschland immer noch nicht ganz am Ziel ist, bis Ende des Jahrtausends soll der Bedarf gedeckt sein. Und das nicht nur im Kleinkindbereich: Ab 2025 wird in Deutschland sogar der Rechtsanspruch auf eine Ganztagesbetreuung in der Grundschule wirksam. Im Vergleich dazu ist Vorarlberg ein „Entwicklungsländle“.

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