Die „Krone“ in Tallinn

Estland: Nur Hochzeit und Scheidung nicht digital

Tirol
05.05.2022 17:00

Was kann sich Österreich von Estland abschauen? Mit dieser Frage reiste eine Delegation der Sparte Banken und Versicherungen der Tiroler WK in die 434.562 Einwohner zählende Hauptstadt Tallinn. Das Ergebnis: Vor allem bei der Digitalisierung können sich die Politiker ein Beispiel an dem Land nehmen.

Im „e-Estonia Briefing Center“, das jährlich mehr als 10.000 internationale Entscheidungsträger aus 135 Ländern empfängt, erklärt Digital Transformation Advisor Erika Piirmets den 14 Delegierten die Entwicklung Estlands zur digitalen Gesellschaft. Der seit 1991 unabhängige Staat, der zuvor zur Sowjetunion gehörte und rund 1,3 Millionen Einwohner zählt, erkannte in der Mitte der 90er-Jahre das Potenzial des Internets, als hierzulande die meisten darin eine Eintagsfliege sahen.

Internet zog schon 2002 in die Klassenzimmer ein
Die ersten Grundsteine wurden im Jahr 2000 gelegt. Mit der Möglichkeit, die Steuererklärung online zu erledigen und Parkgebühren über das Handy zu bezahlen, wurde das digitale Zeitalter offiziell eingeläutet.

Nur zwei Jahre später zog das Internet in die Klassenzimmer ein. Die „e-School“ ermöglicht es Eltern, Lehrern und Kindern online alles rund um das Thema Schule zu organisieren. Im selben Jahr wurde die ID-Card eingeführt, die die Esten im Alter von 15 Jahren bekommen. Diese dient nicht nur als Identitätsnachweis, sondern ermöglicht auch den Zugang zu den elektronischen Services der Behörden.

Heute können die Bürger in Estland 99 Prozent aller Amtswege online abwickeln. Wer zum Beispiel ein Unternehmen gründen möchte, schafft das innerhalb von drei Stunden.

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Dass nicht nur Teile der Verwaltung, sondern diese als Ganzes digitalisiert ist, ist sehr beeindruckend.

Hans Unterdorfer

Automatischer Kontakt durch die Behörden
Und warum genau 99 Prozent? „Für die Hochzeit oder die Scheidung muss man nach wie vor persönlich erscheinen“, erklärt Piirmets der Delegation mit einem Schmunzeln. Apropos Hochzeit: Wer in Estland eine Familie gründet oder ein Kind bekommt, der wird von den Behörden automatisch kontaktiert und darüber aufgeklärt, auf welche zusätzlichen Sozialleistungen nun Anspruch besteht und wie diese beantragt werden können.

Durch die starke Nutzung der elektronischen Services spart Estland beim Bruttoinlandsprodukt jährlich zwei Prozent. Für die Banken interessant: Während in Österreich im Jahr 2021 laut Eurostat 71 Prozent der Bevölkerung Online-Banking nutzten, waren es in Estland 82.

Kleiner Arbeitsmarkt und sehr wenig Industrie
Ist dank der Digitalisierungsoffensive alles „eitel Wonne“ in dem nordeuropäischen Land? Nein, sagt der gebürtige Österreicher Peter Bosek, der die drittgrößte Bank in Estland – die Luminor Group – leitet: „Die Herausforderung ist, dass der Arbeitsmarkt extrem klein ist und es zu wenig Industrie gibt. Zudem gibt es kaum Wohnungen, die gemietet werden können.“

Und was nimmt die Bankenlandschaft mit nach Hause? „Dass nicht nur Teile der Verwaltung, sondern diese als Ganzes digitalisiert ist, ist sehr beeindruckend“, meint WK-Spartenobmann Hans Unterdorfer. Auf die Frage, was der Wirtschaftsstandort Österreich von Estland lernen kann, sagt er: „Dass man auch Dinge digitalisieren kann, die im ersten Moment nicht danach aussehen.“

Und was kann sich umgekehrt Estland von Österreich abschauen? „Wir haben eine viel stärker diversifizierte Wirtschaft und den Fokus auf mehrere Branchen“, sagt Unterdorfer.

„Krone“-Kommentar: Digital-Offensive mit Pappkarton
Just an jenem Tag, an dem die Tiroler Delegation in Begleitung der „Krone“ in Estland über den erfolgreichen Weg bei der Digitalisierung informiert wird, präsentiert ÖVP-Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck in Wien den „Digitalen Aktionsplan“ für die Universitäten - ausgedruckt auf einem Pappkarton. Ein Bild, das Bände spricht und freilich für viel Hohn im Netz sorgte.

Bis zum Herbst soll die Uni-Digitalstrategie 2030 erarbeitet werden. Input, wie es geht, könnte sich die Regierung in Estland holen. Dort ist das Internet vor 20 Jahren in die Schulen eingezogen. Während hierzulande die Kinder - trotz zahlreicher Versprechungen - längst noch nicht alle mit den nötigen Endgeräten ausgestattet sind.

Aber nicht nur für Universitäten und Schulen können sich die Politiker im Bund und im Land eine dicke Scheibe abschneiden. Auch in der Verwaltung gibt es noch viel Nachholbedarf. In dem Land im Nordosten Europas, das nicht einmal so viele Einwohner hat wie Wien, funktionieren alle (!) Behördengänge auf digitalem Wege. Nicht über zehn verschiedene Plattformen, für die man sich ebensoviele Passwörter merken muss, sondern bequem mit einem einzigen Account.

Immerhin: In Österreich sollen mit der „ID Austria“ auch bald wesentlich mehr Behördengänge online erledigt werden können als mit der Handy-Signatur. Die Pilotphase endet Mitte des heurigen Jahres.
Man darf gespannt sein, wie gut das neue System funktionieren wird. Nach dem totalen „Flop“ mit dem Kaufhaus Österreich während der Pandemie und der Präsentation mit dem Pappkarton sind meine Erwartungen nicht allzu hoch. 

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