Psychologe erklärt:

„Opfer von Überfall fühlt sich wie in einem Film“

Tirol
06.08.2020 13:01

Innerhalb von nur 72 Stunden kam es in Tirol zu zwei Überfällen. Am Montag geriet ein Supermarkt in Westendorf ins Visier eines mutmaßlichen Nachwuchs-Ganoven (16), am Mittwoch wurde ein 40-Jähriger in Aldrans laut seinen Aussagen von mehreren Tätern überfallen, mit einem Messer verletzt und in den Wald verschleppt. Die „Tiroler Krone“ hat den Notfall-Psychologen Martin Reiter befragt, wie Opfer mit solchen Erlebnissen zurechtkommen können.

Krone: Welche Reaktion zeigen Opfer von Raubüberfällen während der Tat?
Martin Reiter: Während des Ereignisses kann es zu einem Derealisationserlebnis kommen. Die Opfer erleben die Situation als nicht real. Die Person kommt sich wie im Film vor. Es kann auch zur Beeinträchtigung der Wahrnehmung kommen. Zum Beispiel hört man manche Dinge sehr laut, andere wiederum gar nicht. Wenn der Täter „Überfall!“ oder „Geld her!“ schreit, kann es sein, dass die Opfer das gar nicht hören. Auch das Zeitgefühl kann beeinträchtigt sein. Es kommt den Betroffenen so vor, als würde das Ereignis ewig dauern. Geruch- oder Tastsinn können ebenso betroffen sein. Diese Reaktionen schützen vor zu vielen Reizen. Würde jemand das Ereignis sofort als real wahrnehmen, wäre das zu viel. Viele Personen haben auch das Gefühl eines Kontrollverlustes. Man ist dem Täter ausgeliefert und somit fremdbestimmt. Es entsteht ein Gefühl der Hilflosigkeit, im schlimmsten Fall auch das der Lebensbedrohung.

Wie sieht die Betreuung der Opfer in der ersten Phase aus?
Nach dem Überfall ist wichtig, dass man den Opfern die Handlungsfähigkeit – also die Kontrolle über das eigene Leben – wieder zurückgibt. Sie müssen stabilisiert werden. Es wird darauf geachtet, welche Bedürfnisse sie haben. Diese können ganz unterschiedlich sein. Manche wollen mit den Kollegen zusammen über das Ereignis sprechen. Andere wollen im ersten Moment gar nicht darüber sprechen. Wiederum andere wollen ein Einzelgespräch mit einem Therapeuten führen. Wichtig dabei ist prinzipiell, dass alles freiwillig geschieht.

Wie können die Opfer das Erlebnis verarbeiten?
Sie sollten recht rasch wieder aktiv werden, um den Stress zu reduzieren. Bewegung ist dabei sehr hilfreich, aber auch das Durchführen gewohnter Hobbys. Und irgendwann müssen die Betroffenen auch wieder zurück zum Arbeitsplatz. Durch Gespräche wird ihnen dafür das Gefühl der Sicherheit wiedergegeben. So kommen die Opfer dann zu dem Schluss: Das war ein einmaliges Ereignis und eine Ausnahme, ist aber nicht die Regel. Viele Personen schaffen es sehr gut, das so zu sehen. Bei den meisten genügen drei oder vier Sitzungen.

Kommen die Opfer jemals über das Ereignis hinweg?
Menschen sind von ihrer Entwicklung her so aufgebaut, dass sie schwierige Situationen sehr gut meistern können. Das hängt aber auch von dem Ereignis ab. Raubüberfälle können Menschen in der Regel sehr gut verarbeiten. Nach ungefähr sechs Wochen geht es vielen schon besser. Sie fühlen sich am Arbeitsplatz sicherer und unternehmen in der Freizeit wieder mehr. Sechs Wochen sind sozusagen auch der Gradmesser. Wenn es dem Betroffenen nach dieser Zeit nicht besser geht, muss mehr unternommen werden. Bei anderen Ereignissen – zum Beispiel wenn man das eigene Kind verliert oder Opfer eines Sexualverbrechens wird – kann die Verarbeitung wesentlich länger dauern.

Wie können Angehörige am besten helfen?
Solch ein Erlebnis lähmt sowohl physisch als auch psychisch. Die betroffene Person ist völlig erledigt. Es kann sein, dass sie am Wochenende trotz schönem Wetter einfach nur schlafen will. Familie und Freunde sollten hier nicht aufdringlich sein und das akzeptieren. Und sie sollten auch akzeptieren, wenn Betroffene nicht gleich über das Erlebte sprechen möchten. Angehörige müssen ebenso wie die Spezialisten bedürfnisorientiert helfen und schauen, was die Person braucht.

Gibt es vorbeugende Maßnahmen, damit man von solch einem Ereignis nicht überfordert wird?
Wir müssen alle darauf Acht geben, immer psychisch und körperlich fit zu sein. Bewegung, gesunde Ernährung, soziale Kontakte und ausreichend Erholungs- sowie Ruhephasen helfen dabei sehr. Eine traumatische Situation gehört zum Leben dazu. Diese stecke ich leichter weg, wenn ich ein stabiler und ausgeglichener Mensch bin. Man muss sich im Endeffekt fit halten für ein mögliches Trauma.

Werden Betriebe auf solche Situationen vorbereitet?
Bei Banken werden Präventionsschulungen gemacht. Mitarbeiter lernen das richtige Verhalten während einer Tat. Führungskräfte wiederum, wie sie mit dem Team in der Zeit danach umzugehen haben. Auch wie anwesende Kunden betreut werden müssen, wird erlernt. Solche Schulungen tragen dazu bei, dass die Opfer das Ereignis schneller verarbeiten können. Sie sollten auch in Geschäften und Lokalen gemacht werden, die ja immer öfter das Ziel sind.

Zur Person: Martin Reiter ist Klinischer Psychologe, Gesundheits-Psychologe sowie Notfall-Psychologe. Unter anderem ist er seit mehr als 15 Jahren beim Landesverband des Roten Kreuzes Tirol für die Krisenintervention mitverantwortlich. Er ist spezialisiert für traumatische Situationen nach Gewaltdelikten und leitet quer durch ganz Österreich Präventionsschulungen.

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