Umstrittene Ära

Wolfgang Schüssel – Der Wendekanzler ist 70

Österreich
07.06.2015 07:58
Der langjährige ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel ist am Sonntag 70 Jahre alt geworden. Noch heute blickt die Volkspartei sehnsüchtig auf jene Zeiten zurück, als man dank des vifen Taktikers das Kanzleramt bevölkern durfte. Dabei war die Ära Schüssel die wohl umstrittenste der Zweiten Republik und eine, die auch den Jubilar geprägt hat.

Wenn man sich ins Jahr 2000 zurückdenkt, als Schüssel von Platz drei in der Wählergunst mit Hilfe des international weithin geächteten FPÖ-Chefs Jörg Haider die Regierungsspitze erklommen hatte und Österreich mit EU-Sanktionen versehen worden war, ist es schon erstaunlich, dass am 22. Juni anlässlich des 70ers des Wendekanzlers immerhin die deutschen Regierungschefin und wohl mächtigste Politikerin Europas, Angela Merkel, nach Wien in die Schönbrunner Orangerie anreisen wird. Doch Schüssel hat sich - bei aller Kritik an ihm im In- und Ausland - den Ruf eines Staatsmanns erarbeitet.

Heute ist er ein gerne gehörter Mann. Schüssel sitzt im Kuratorium der renommierten Bertelsmann-Stiftung, im italienischen Thinktank Ambrosetti Forum, ist Aufsichtsrat beim Energieriesen RWE und schreibt auch ganz gerne ein Buch. Zuletzt erschienen anlässlich seines Geburtstages Schüssels Kolumnen für die "Neue Zürcher Zeitung" in gebundener Form.

Wendekanzler mit rhetorischem Talent
Dass es um den sogenannten Wendekanzler so ein G'riss gibt, hängt mit dessen rhetorischem Talent zusammen. Dazu kommt, dass er sich nie vor kantigen, durchwegs konservativen Thesen scheut, mittlerweile freilich nur mehr zu internationalen Themen. Das Feld der Innenpolitik hat Schüssel hinter sich gelassen, tagespolitische Zwischenrufe aus dem Altenteil sind von ihm nicht zu vernehmen. Um Rat gefragt wird er in der ÖVP freilich allemal noch.

Verwunderlich ist das nicht. Auch wenn er diesen Eindruck gerne verwischt, Schüssel ist Berufspolitiker durch und durch. Seine gesamte Karriere verbrachte er zumindest am Rande der Tagespolitik.

Einst Hoffnungsträger, dann Notlösung
Der promovierte Jurist, der - wiewohl aus finanziell eher schwächeren Verhältnissen kommend - ein Wiener Privatgymnasium absolviert hatte, begann schon in seinen frühen 20ern im ÖVP-Parlamentsklub als Sekretär. Mit 30 wurde er Generalsekretär des Wirtschaftsbunds und dabei schnell zum Hoffnungsträger der Partei. Ein Mandat im Nationalrat gab es rasch, doch hieß es dann warten und zwar nicht zu kurz.

Nachdem er ein Duell um die Klubführung gegen den wenig charismatischen Fritz König verloren hatte, schaffte es der damals noch leidenschaftliche Mascherl-Träger und Brillen-Fetischist 1989 als Wirtschaftsminister in die Bundesregierung. Als er 1995 Erhard Busek an der Parteispitze ablöste, galt er als Notlösung. Doch der nunmehrige Außenminister ging gleich in die Vollen, brach Neuwahlen vom Zaun und fiel auf die Nase. Franz Vranitzky blieb mit seiner SPÖ an der Spitze - eine bleibende Wunde für den ehrgeizigen VP-Chef.

Von Platz drei ins Kanzleramt
Dass Schüssel sich dann mit dem erstmaligen und bisher einmaligen Rückfall der ÖVP auf Platz drei der Wählergunst 1999 das Kanzleramt sicherte, ist eine Ironie der Geschichte. Schüssel hielt dabei allem erdenklichen Druck stand, dem der EU, dem der Demonstranten auf der Straße und auch dem der wütenden Opposition. Auch als die erste Koalition mit den Freiheitlichen scheiterte, verlor Schüssel nicht die Nerven, ganz im Gegenteil eilte der von Parteifreunden mittlerweile als Reformkanzler Gefeierte 2002 sogar zu Platz eins bei der Nationalratswahl.

2006 war es dann vorbei, zu sehr verließ sich Schüssel auf eigenen Ruhm, BAWAG-Skandal und vermeintlich fehlenden Glanz von Herausforderer Alfred Gusenbauer. Die SPÖ zog an der ÖVP vorbei, Schüssel torpedierte noch einige Zeit die von ihm selbst mit ausverhandelte große Koalition als Klubchef und später einfacher Abgeordneter, ehe er sich im September 2011 im Zuge der Telekom-Affäre zurückzog - und das, obwohl gegen ihn persönlich keine ernsthaften Vorwürfe vorlagen.

Doch die Telekom ist einer jener Skandale, die Schüssels Kanzlerschaft, die auf der anderen Seite etwa die NS-Restitutionen und wohl kaum vermeidbare Reformen etwa im Pensionsbereich brachte, bis heute überschatten. Vor allem der von ihm hoffähig gemachte Koalitionspartner FPÖ bzw. später BZÖ dürfte bei der einen oder anderen Privatisierung mitgenascht haben. Schüssel lassen entsprechende Vorhaltungen zumindest nach außen bis heute kalt.

Zornig, herablassend, humorvoll, sportlich
In ihn hineinzublicken ist nicht so leicht. Er scheut öffentlichen Zorn nicht, ist oft herablassend, kann aber auch charmant sein und ist nicht humorbefreit. Schüssel kann sich Situationen anpassen, war auch kein schlechter Wahlkämpfer. Seine Tochter, Künstlerin Nina Blum, dürfte einen guten Teil ihres schauspielerischen Talents von ihrem Vater geerbt haben. Schüssels Frau Krista ist Kinderpsychologin. Der Ehe entstammt auch ein Sohn.

Kreativ ist Schüssel nicht nur in seinem politischen Auftreten: Er spielt Cello, ist ein begabter Karikaturist und bastelt Papierschnitte. Den sportlichen Ehrgeiz befriedigt er in den Bergen oder am Fußballfeld. So fit wie Schüssel zu seinem 70. Geburtstag scheint, dürfte er diesen Hobbys noch längere Zeit frönen können.

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