Winfried Bergmann war 85, als er mit seiner Frau vor einem Jahr nach Graz kam. Herausgerissen aus seinem geliebten Alltag in München, fing ihn ausgerechnet das Margaretenbad-Grätzel auf. Der Wahl-Grazer sagt: „Je schlechter es meiner Frau ging, desto wichtiger wurde mir das Grätzel.“
Winfried Bergmann bezeichnet sich selbst als „Grazer mit Migrationshintergrund“. Vor einem guten Jahr zog er von München hierher zu seiner Tochter – „aus Altersgründen“, wie er sagt. „In Deutschland hatte ich viele vertraute Nachbarn, aber hier hatte ich erstmal nur meine Familie“, erzählt Bergmann. Noch dazu ging es seiner Frau körperlich und geistig tendenziell immer schlechter. Also suchte er nach Anschluss – und fand ihn bei gemeinsamen Abenden im Nachbarschaftstreff. Der heute 86-Jährige sagt: „Das Grätzel hat mich empfangen und aufgefangen.“
Aber wie genau schaffen es Grätzel wie dieses, Menschen Halt zu geben? Bergmann sitzt gemeinsam mit der Vereinsobfrau der Grätzelinitiative Margaretenbad, Claudia Beiser, am Tisch im Nachbarschaftstreff. Gerade wurde hier Englisch unterrichtet, ein paar ältere Frauen ziehen sich noch die Mäntel an und verabschieden sich. „Bei uns ist jeder willkommen, ob Universitätsprofessor oder Hausfrau“, sagt Beiser, „die Idee ist es, Menschen zusammenzubringen, gerade in schwierigen Zeiten.“
Das Prinzip: Alle Angebote können ohne Kosten und ohne Anmeldung wahrgenommen werden. Das bedeutet auch, dass – bis auf eine Angestellte für Kommunikation und Koordination – alle Mitglieder ehrenamtlich hier arbeiten. Literaturkreise, Suizidvorträge, gemeinsames Singen, Kochen oder Spielen – alles auf Basis von Geben und Nehmen. Bergmann besucht gerne Literaturabende, auch sein eigenes Buch wurde schon besprochen. Im Gegenzug kann er mit dem „Grätzelradio“ anderen etwas zurückgeben.
Ein Grätzelradio als Pensionsprojekt
Als ehemaliger Journalist hat er reichlich Wissen auf Lager, das er an Jüngere weitergeben kann. „Als die Idee vom Grätzelradio aufkam, wollte ich sofort mitmachen, weil ich in jungen Jahren auch Radio gemacht habe“, sagt Bergmann. Regelmäßig investiert er viele Stunden in Beiträge rund um „Einsamkeit“ oder „Resilienz“ – von der Vorbereitung bis zum Schnitt. „Wir waren sogar im Hauptprogramm des Steirischen Herbst. Unsere Sendungen gibt es als Podcast und auf Radio Helsinki“, erzählt er stolz.
Eine dieser Sendungen nahm er im Sommer letzten Jahres am Grätzelfest unter tobenden Kindern und schmausenden Erwachsenen auf. Ein Fest, das sich über die Jahre einen Status im Grazer Bezirk Geidorf erarbeitet hat. Es ist eines von vielen Beispielen dafür, was in der Gemeinschaft möglich ist. Denn seinen Ursprung nimmt das 450 Mitglieder starke Grätzel in einer Initiative für den Erhalt des Margaretenbads. „Viele haben dort schwimmen gelernt oder ihren Mann kennengelernt. Sie hatten eine emotionale Verbindung zum Bad und wollten nicht, dass es zusperrt“, erzählt Beiser.
Viele haben im Margaretenbad schwimmen gelernt oder ihren Mann kennengelernt. Sie hatten eine emotionale Verbindung dazu und wollten nicht, dass es zusperrt. Aus dieser Bürgerinitiative hat sich später das Nachbarschaftszentrum entwickelt.
Claudia Baiser, Vereinsobfrau Grätzelinitiative Margaretenbad
Dabei gehe es auch um so etwas wie „Heimat“, meint Beiser. „Immer wieder, wenn ich die Tür vom Grätzeltreff aufsperre, fühlt sich das für mich an wie Heimkommen.“ Daran knüpft auch die gemeinsame Flüchtlingsarbeit an. Als der Ukrainekrieg ausbrach, organisierten sie für 13 Familien eine Wohnung, Deutschkurse und vieles mehr.
Das Gefühl, mit offenen Armen empfangen zu werden, kennt auch Bergmann. Hier fand er Anschluss, hier fand er Anerkennung und Zuwendung. Ein- bis zweimal pro Woche kommt er seither in das Eckhaus in der Wastlergasse, um sich in der Nachbarschaft einzubringen. Den Ort und die Gemeinschaft weiß er zu schätzen: „Je schlechter es meiner Frau ging, desto wichtiger wurde mir das Grätzel“, erzählt der Wahl-Grazer.
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