Innsbrucker Projekt

Ein Tiroler Buch über die Kinder vom Feind

Tirol
11.12.2022 17:00

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in den Familien in Österreich viel totgeschwiegen. So auch die väterliche Herkunft mancher Kinder. Eine Tiroler Forscherin will das Schweigen brechen.

Die Innsbrucker Forscherin Flavia Guerrini durchkämmt Akten aus der Nachkriegszeit, als sie bei einer plötzlich stutzig wird. Eigentlich beschäftigt sie sich gerade mit Erziehungsheimen in Westösterreich, als ihr die Notiz einer Fürsorgerin auffällt, die sie auf ein völlig neues Forschungsgebiet bringen wird. In der Notiz äußerst sich die Fürsorgerin verwundert darüber, dass in einer von ihr betreuten Familie die Kinder gleich behandelt werden. Die Eltern lassen nämlich das Pflegekind gar nicht spüren, dass es eine dunkle Hautfarbe hat. Und dunkle Hautfarbe konnte damals nur eines bedeuten: Kind eines Besatzungssoldaten.

Flavia Guerrini, eine Tiroler Forscherin an der Uni Innsbruck (Erziehungs- wissenschaft), forschte für ihr Buch. (Bild: zVg)
Flavia Guerrini, eine Tiroler Forscherin an der Uni Innsbruck (Erziehungs- wissenschaft), forschte für ihr Buch.

Die Verwunderung der Fürsorgerin war verständlich, üblich war das nämlich nicht, dass man solche „fremden Kinder“ gleich liebevoll wie die „eigenen“ behandelte, wie sich bei der Recherche für das Buch „Vom Feind ein Kind“ herausstellen sollte. Dabei ist das bei 30.000 Kindern „vom Feind“ in Österreich gar kein Einzelfall. Guerrini spricht mit neun von ihnen und hat nun ein Buch veröffentlicht. 1956 dürften die letzten Besatzungskinder auf die Welt gekommen sein, diese Kinder sind also zwischen 66 und 76 Jahre alt. Die Spuren dieser Kindheiten ohne Vater ziehen sich durchs Land sowie durch die Generationen.

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Einerseits war man froh, dass der Krieg endlich vorbei war. Die Besatzungssoldaten wurden aber dennoch oft als Feinde angesehen.

Flavia Guerrini

Von der großen Liebe bis hin zur Vergewaltigung
Die Zeit nach dem Krieg war eine Zeit des Mangels. Es fehlte an Nahrung, an Wohnraum, weil die Häuser zerbombt waren – es fehlte schlichtweg an allem. Wie lässt sich die Stimmung nach dem Ende des Nationalsozialismus beschreiben? „Einerseits war man froh, dass der Krieg endlich vorbei war. Die Besatzungssoldaten wurden aber dennoch oft als Feinde angesehen.“

Die Kinder kamen auf unterschiedliche Art zustande: „In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es Vergewaltigungen, am meisten im Gebiet, in dem die rote Armee, also die Sowjetsoldaten, waren. Aber es gab auch kurze Liebschaften bis hin zu mehr oder weniger langen Paarbeziehungen. Und sicher auch Arrangements, im Zuge derer es vielleicht keine Verliebtheit war, aber eine sexuelle Beziehung im Austausch gegen Schutz und Nahrung“, weiß Guerrini.

Belastung durch Tabus und Schweigen in den Familien
Romanzen mit den fremden Soldaten wurden nicht gerne gesehen – weder vom österreichischen Volk noch von den zurückkehrenden, einheimischen Soldaten sowie vom gegnerischen Militär. Die Soldaten wurden auch oft abgezogen, sobald eine Schwangerschaft bekannt wurde – hier wollte sich die Militärverwaltung schlicht keine finanziellen Lasten zulegen. Das Ergebnis waren vaterlose Kinder.

Wie über so vieles nach dem Krieg wurde in vielen Familien auch darüber geschwiegen. Die Kinder wussten meist nicht, warum sie anders behandelt wurden. Die Umgebung hingegen schon. „Ein Interviewpartner erzählte, wie er als 23-Jähriger zufällig erfahren habe, dass er das Kind eines Besatzungssoldaten sei. Jener, der das erwähnte, sei davon ausgegangen, dass er es natürlich wisse – immerhin wisse das ganze Dorf davon.“

Vom „verlorenen“ Vater endlich ein Foto. (Bild: Guerrini)
Vom „verlorenen“ Vater endlich ein Foto.

„Ich möchte nur einmal ein Foto sehen“
Endlich Erleichterung, endlich wurde plötzlich vieles klar, endlich gab es eine Antwort. Denn das Nichtwissen über die Herkunft kann unerträglich sein. Eine Interviewpartnerin erzählte: „Die Großeltern haben gesagt, dass mein Vater so ein feiner Mensch sei und ich ihm total gleich sehe. Ich möchte nur einmal ein Foto sehen - die einzige Aufnahme, die meine Mutter gehabt hat, hat mein Stiefvater zerrissen. Also ich weiß gar nicht, wie er ausschaut.“ Die Dame war bereits über 70 Jahre alt, als es ihr gelang, ein Foto zu bekommen.

Guerrini hat sich im Zuge ihrer Recherche viel mit Familie und Identität beschäftigt und kommt zu dem Schluss, dass es sehr belastend für Kinder sei, wenn väterliche Herkunft verheimlicht werde. Es sei ein Stück österreichische Geschichte, doch auch heute herrsche Krieg in Europa und es werden Kinder zur Welt kommen, deren Väter gegnerische Soldaten seien.

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