Möchte gelähmt sein

Kerngesunde Frau sitzt freiwillig im Rollstuhl

Ausland
07.11.2022 13:59

Es mag für die einen oder anderen absurd klingen: Kerngesunde Menschen, die den Wunsch verspüren, eine körperliche Behinderung zu erlangen. Doch was wie ein makaberer Scherz klingt, ist die Beschreibung einer seltenen Erkrankung, und für Betroffene wie etwa Jørund Viktoria Alme aus Oslo oder Karsten S. aus Frankfurt ein belastender Wunsch. 

Jørund Viktoria Alme ist 53 Jahre alt und leitende Kreditanalystin in Oslo. Sie hat keine körperlichen Behinderungen, identifiziert sich dennoch als behinderte Frau. Für Alme - die ursprünglich im Körper eines Mannes geboren wurde - sei es laut Informationen von The Harald ein lebenslanger Wunsch gewesen, als von der Hüfte abwärts gelähmte Frau geboren zu werden. Entwickelt hätten sich diese „Gedanken und Reaktionen“ bereits ab dem fünften Lebensjahr, ausgelöst durch bestimmte Situationen, etwa wenn ein Mitschüler mit einer Schiene am Bein und Krücken in die Schule kam.

Lebt nun bereits seit 5 Jahren im Rollstuhl
„Meine Reaktion war von intensivem Interesse“, sagte Alme. „Mein Herz pochte, mein Puls stieg und ich wurde in meinem Körper aktiviert. Ich war unglaublich konzentriert auf ihn und darauf, worum es ging …“, schilderte die Norwegerin. Mittlerweile benutzt Alme schon seit fünf Jahren einen Rollstuhl. An ihrer Seite: Ihre Partnerin Agnes und ihre gemeinsamen zwei Söhne. „Wir haben diesen Prozess gemeinsam durchgemacht. Agnes war fantastisch“, so Alme.

Ein großes „Aha-Erlebnis“ hatte die Norwegerin, als sie endlich in ihrem Rollstuhl sitzen konnte: „Wenn meine Beine sich vollständig ausruhen dürfen, wird die Auslösung des BIID gestoppt, sodass ich viel Ruhe bekomme und meine Ressourcen für andere Dinge nutzen kann.“ Doch was genau ist „BIID“ eigentlich? BIID ist die Kurzform der seltenen Erkrankung „Body Integrity Identity Disorder“ (deutsch: Körperintegritäts-Identitätsstörung, Anm.). Bei dem psychischen Phänomen verspüren Betroffene den Wunsch, eine körperliche Behinderung zu erlangen, wie etwa Blindheit, Querschnittslähmung oder Amputation eines Körperteils. 

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Wenn meine Beine sich vollständig ausruhen dürfen, wird die Auslösung des BIID gestoppt, sodass ich viel Ruhe bekomme und meine Ressourcen für andere Dinge nutzen kann.

Jørund Viktoria Alme

Betroffene, die sich wie Alme freiwillig im Rollstuhl befinden, werden auch „Pretender“ genannt. Sie tun so, als wären sie behindert, indem sie sich ein Bein hochbinden, auf Krücken gehen oder sich in einen Rollstuhl setzen. 

Auch Karsten S. sitzt freiwillig im Rollstuhl
Ähnlich wie der 53-jährigen Norwegerin geht es in diesem Fall auch einem jungen Mann aus Frankfurt am Main. Karsten S. (30) - so berichtet der Spiegel - ist Hobbyfußballer und kerngesund. Sein innigster Wunsch: Er wäre gerne querschnittsgelähmt. Auch er sitzt freiwillig im Rollstuhl, auch er sieht es als Teil seiner Identität an, amputiert oder querschnittsgelähmt zu sein. 

Auf die Frage, ob er sich das Rückenmark durchtrennen ließe, würde er einen Chirurgen finden, antwortet Karsten: „Ja, absolut ja.“ Voraussetzung sei für ihn allerdings die Gewissheit, dass Nebenwirkungen wie Impotenz und Inkontinenz ausgeschlossen wären. Schon als Kind war Karsten von behinderten Menschen fasziniert. Als er älter wurde, steigerte sich die Neugier zur Obsession: „Ich finde es erotisch, wie sich Menschen im Rollstuhl bewegen, die querschnittsgelähmt sind, irgendwie elegant.“ 

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Als ich gemerkt habe, dass es noch mehrere gibt, war ich sicher: Das ist es, was ich will.

Karsten S.

Tauschte sich im Internet mit Betroffenen aus
Wie Karsten damit umgehen sollte, wusste er zu Beginn selbst nicht. Erst, als der heute 30-Jährige im Internet auf Foren stieß, in denen sich Pretenders aus Deutschland und der ganzen Welt austauschten, wusste er, er war mit seiner Obsession nicht alleine. „Als ich gemerkt habe, dass es noch mehrere gibt, war ich sicher: Das ist es, was ich will“, so der Deutsche. Mit 20 Jahren setzte er sich schließlich zum ersten Mal in den Rollstuhl - und fühlte sich angekommen. 

Magazin erhielt Briefe von Lesern mit ähnlichen Fantasien
Bereits in den Siebzigerjahren waren Psychologen in den USA auf das Phänomen BIID aufmerksam geworden, als das Männermagazin „Penthouse“ Briefe von Lesern druckte, die von ihren Amputationsfantasien berichteten. 

Die YouTuberin Izzy Kornblau, die selber unter einer chronischen Behinderung leidet und damit auch sehr offen auf ihrem Kanal umgeht, hat ein langes Video über Menschen, die unter BIID leiden, gepostet. Sie erzählt, als sie angefangen hat, Körperintegritäts-Identitätsstörung zu recherchieren, war sie skeptisch und hat sich geärgert. Als sie dann mehr über Menschen mit BIID herausgefunden hat, hat sie es besser verstanden. Menschen, die unter BIID leiden, leiden darunter und wollen nicht aus Spaß behindert sein, berichtet das Magazin wmn. 

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