Das Paradies als Hölle

Es wird wieder Zeit für kompromisslose Gewalt

Musik
09.11.2021 06:00

Gewalt ist Programm. Die Berliner Band rund um Patrick Wagner bringt das Archaische, Unkontrollierte und Wilde ins Musikbusiness zurück. Musik zur Emotionsfreilegung und fern jedweden Kalküls. Sprich: Musik gegen jeden Trend. Musik, die Gitarren, Techno-Beats und Punk-Attitüde vereint. Mehr dazu haben wir im ausführlichen Interview erfahren.

(Bild: kmm)

Was macht denn Rockmusik eigentlich aus? Wo bleibt die unkontrollierte Gefährlichkeit, von der immer gesprochen wird? Das Anarchistische und ganz und gar Unerwartete? „Wenn wir auf Festivals spielen und ich die ganzen andere Bands sehe, denke ich mir immer, sie sollen endlich die Stöcke aus ihrem Arsch nehmen“, erklärt Patrick Wagner, „Musik muss geil, wild, irre und ursprünglich sein, aber die meisten Musiker beschränken sich darauf, die perfekte Harmonie im perfekten Moment zu spielen.“ Mit einem Terminus wie Harmonie fängt Wagner nicht viel an. Nicht umsonst hat er seine 2015 gegründete Band Gewalt genannt. Ursprünglicher, roher und wilder kann man sich auf Deutsch kaum nennen und rückbetrachtet mutet es sogar seltsam an, dass man diesen doch so geläufigen Begriff in der Musikwelt davor noch nie hat aufploppen sehen. Musik gegen das Reißbrett und gegen alle Erwartungen, das ist das Credo des Trios, das von seiner Lebenspartnerin Helen Henfling und der Wienerin Jasmin Rilke vervollständigt wird.

Auf und ab
Drei Personen, Drumcomputer, viel Monotonie und bewusste Redundanz. Dazu ein Lärmgewitter aus gitarrenlastigem Noise und Techno-Beats und eine Attitüde, die man am besten mit Punk und Hip-Hop vergleichen kann. Jenem Punk und Hip-Hop, der gegen das Kapital und das Establishment wetterte und nicht nur als rein provokative Modeerscheinung im Mainstream brilliert. Wobei Provokation natürlich ein bewusst eingesetztes Stilmittel bei Gewalt ist, wie könnte es auch anders sein? Doch diese Provokation ergibt sich aus vor allem aus der Persönlichkeit des Frontmannes. Wagner sorgte in den 90er-Jahren mit seiner Rock-Band Surrogat für Genre-Furore, machte das kleiner Berliner Musiklabel Kitty-Yo über die Landesgrenzen hinaus bekannt und arbeitete dann ein Jahr beim Branchenriesen Universal Music, wo ihm die kalkulierten Mechanismen des Musikbusiness endgültig die Augen öffneten. Mit seinem eigenen Label ging Wagner dann pleite und stürzte in eine berufliche, wie private Sinnkrise, aus der ihn erst wieder Henfling und Gewalt herausziehen konnten. Brutalität gegen Depression, sozusagen.

„Ich habe zu viel Energie für diese Welt“, erklärt er uns im Gespräch, „ich kriege totale Probleme, wenn ich mit Realitäten konfrontiert werde. Ich gebe in jeder Situation meines Lebens alles. Auf der Bühne, im Studio, hier im Interview oder beim Gespräch mit dem Kanalarbeiter. Aber die Gesellschaft toleriert das nicht. Wenn ich mit all meiner Liebe und Energie durch die Welt laufe, hole ich mir nur Watschen ab.“ Der Song „Stumpfer werden“ spiegelt die Probleme einer immer gleichgebügelteren Gesellschaft sehr gut wider. Textzeilen wie „ich hol dich raus, mach dich stumpf und taub“ werden von einem Kinderchor gesungen. „So ein Thema kann nicht zum coolen Indie-Rock-Stück werden, das muss ballern. Kinder sind bei diesem Thema genauso relevant. Sobald du in die Schule kommst, musst du aufhören, du selbst zu sein. Alles, was ich hier mache, ist ja keine Provokation, sondern der Inhalt des Lebens.“

Bob Dylan aus Berlin
Dass ein derartiger Tonträger von Gewalt erscheint, war so nicht zu erwarten. Die Band veröffentlichte über sechs Jahre hinweg nur Singles. Ohne große Ankündigung, im absoluten Guerilla-Stil. Völlig egal, wer sie rausbringt. Hauptsache, sie kommen raus. Ein ausgestreckter Mittelfinger gegen die gleichgeformten Normen des Musikbusiness und ein weiterer Beweis dafür, dass man sich die Anarchie im Rock’n’Roll in der heutigen Zeit längst selbst basteln muss. „Wir wollten wieder was machen, bei dem wir aufgeregt sind. Wir haben uns zehn Tage lang im Studio getroffen und die ersten fünf Tracks geschrieben. Nichts war ausformuliert. Bands tüfteln heute herum und fragen erst einmal, was die KI auf ihrem Rechner zu ihren Ideen sagt. Wir hingegen wissen noch nicht einmal was wir überhaupt tun, wenn wir uns treffen.“ Plötzlich entstand nicht nur ein Doppelalbum mit zehn neuen Songs auf CD 1 und den bisherigen Singles neu gemastert auf CD 2, sondern auch ein üppiges Buch, das tief in die mannigfaltige Gedankenwelt Wagners blicken lässt. „Wir haben das jetzt so gemacht wie Bob Dylan nach seinen ersten 20 Jahren“, lacht Henfling, „also quasi von der Single direkt zum Lebenswerk. Hauptsache total übertrieben.“

Songtitel wie „Gier“, „Unterwerfung“, „Jahrhundertfick“ oder „Stirb es gleich“ lassen wenig Fragen offen. Die Feinheiten liegen natürlich im textlichen Detail, aber die groben Grundzüge gegen Kapitalismus, Abstumpfung, politische Verrückungen und die Spaltung der Gesellschaft lassen sich schnell erkennen. All das baut man in dicke Beats oder breitflächige, shreddernde Gitarrenwände ein. Dass dabei sogar filigranere Stile wie Funk-Anleihen durchklingen können, wird dem konzentrierten Hörer noch zusätzliches Vergnügen bescheren. Wagner hat mittlerweile den 50er überschritten, klingt aber wütender und enttäuschter als so manch Twentysomething. „Altersmilde kenne ich nicht“, lacht er leidenschaftlich, „ich mache keine Singer/Songwriter-Geschichten. Die Band musste archaisch, wütend und kräftig sein. Eine wichtige Inspiration dazu war mein Besuch bei einem Sleaford-Mods-Konzert. Die Energie, die man mit Stimme und einem Laptop entfachen kann, hat mich umgeblasen. Wir sind eben der wirkliche Punk. Nicht so wie diese Typen mit Schlüsselbändern, die dieses Foo-Fighters-Punkgehabe an den Tag legen. Ich denke da an die Sex Pistols, an PIL oder die Stooges. Bands, wo man nie wusste, was als nächstes passiert.“

Das Paradies Hölle
Gewalt wollen vor allem Emotionen projizieren und vermitteln. „Wir sind nicht so eine moralische Instanz wie die Hamburger Schule. Es geht nicht darum, was richtig und was falsch ist. Wir schmeißen alle Emotionen in einen Topf und daraus entsteht Gewalt. Bei uns gibt’s im Publikum Leute, die sich gegenseitig anspringen, die Ausdruckstanz vollführen, die im Eck stehen und die Texte mitschreiben und auch solche, die weinen. All das passiert gleichzeitig, absolut irre. Wenn wir uns was von unseren Gigs erhoffen, dann, dass jeder bei sich ist und seine persönliche Gewalt, Kraft und Liebe findet.“ Das titelgebende „Paradies“ ist bei Gewalt natürlich auch nicht einfach so als solches zu verstehen. „Der Gedanke ist, dass sich jeder sein eigenes Paradies erschafft. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich mein Paradies sehen will. In allem Guten steckt auch etwas Krankes. Jeff Bezos etwa hat so viel Geld, dass er ins All fliegen muss, um sein Paradies zu finden, noch etwas zu spüren. Das ist doch die totale Hölle, wenn du dir Freude im Leben so holen musst.“

Ganz selbstverständlich spielen bei dieser Band Themen wie Gewalt, Hass, Liebe, Kraft, Gemeinschaft, Toleranz oder Opposition eine verbindende Rolle. Das Leben ist eben nicht schwarz und weiß, sondern durchzogen von den mannigfaltigsten Grautönen, so wie auch der mal hypnotisch-paralysierende, mal ballernde und mal getragene Sound der Berliner Band, die ihr klangliches Seelenheil bewusst nicht in der Gemütlichkeit sucht. „Normalerweise verstecken sich Musiker gerne hinter ihren Instrumenten und ihrem Spiel, doch das ist bei uns nicht möglich. Beim Titeltrack ,Paradies‘ gibt es zehn Minuten lang ein- und denselben Ton. Stell dir das mal live vor. Du stehst versteinert da, lässt den Beat laufen und bist im Moment. Die Leute sehen dich, aber du kannst dich nirgends verstecken. Das macht die Kraft von Gewalt aus.“ Imperfektion ist ein weiteres Merkmal der Band. „Egal wie viel wir proben, es kann bei uns auch mal richtig Scheiße werden. Diese Einstellung haben nur die wenigsten Bands, aber für uns ist das ein ganz wichtiger Punkt.“

Freaks und Außenseiter
Die Wiener Bassistin Rilke ergänzt: „Ich würde schon sagen, dass wir eine Band für Leute sind, die die breite Masse als Freaks und Außenseiter bezeichnen würde. Wir sind für jene da, die sich verletzlich zeigen können. Wenn jemand auf hart macht, kaschiert er doch nur die eigene Angst oder Unsicherheit. Das sieht man gut an den meisten Rappern.“ In die Welt von Gewalt lässt sich mit dem Doppelalbum „Paradies“ und dem dazugehörigen Buch sehr gut eintauchen. Zeit, Geduld, Toleranz und Liebe zum Krach sollte man aber unbedingt mitbringen. Den schönsten Musik-Moment hat Wagner noch gut in Erinnerung. „Beim Maifield-Festival spielten wir mal um 2 Uhr morgens und da kamen Moderat zu uns. Die spielten den ganzen Sommer über mit Techno-Acts, Weltstars und Black-Metal-Bands, meinten aber, dass wir sie daran erinnert hätten, warum sie überhaupt Musik machen. Die haben eine der fettesten Produktionen der Welt, da sitzen acht Typen am Rechner, wenn sie auftreten. Bei uns sind die Beats am iPad programmiert und einmal kam durch das Roaming sogar eine SMS rein und der ganz Beat fuhr mitten im Gig runter. Wir fanden das aber geil, denn das ist echter Punk.“

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