Berichte von Zeugen

Martinsbühel: Die Heimkinder schweigen nicht mehr

Tirol
19.09.2021 14:00

Im Mädchenheim Martinsbühel in Zirl wurden einst Schützlinge schwer misshandelt. Die Geschehnisse sind Anlass, die Geschichte der kirchlichen Heime in Tirol aufzuarbeiten. Im Frühling suchten Forscher für diese Studie über die Medien Zeitzeugen - und sie waren von den vielen Rückmeldungen überrascht.

Ina Friedmann und Friedrich Stepanek hatten einen arbeitsreichen Sommer. Die beiden Historiker erstellen unter der Leitung von Professor Dirk Rupnow vom Institut für Zeitgeschichte der Uni Innsbruck eine Studie zur Situation von Kindern in sechs ehemaligen kirchlichen Heimen Tirols nach 1945. Auftraggeber sind das Land und die Diözese Innsbruck.

„Zwei Wochen stand das Telefon nicht still“
Eine wesentliche Quelle für die Wissenschafter sind Zeitzeugen. „Als wir den Aufruf über die Medien starteten, stand das Telefon zwei Wochen gar nicht still“, berichten Stepanek und Friedmann - und fügen nach einer kurzen Pause hinzu: „Wir sind froh, dass die Betroffenen nicht mehr schweigen.“

„Viele Betroffenen wissen nichts von Anlaufstelle“
Es meldeten sich zahlreiche ehemalige Heimkinder, aber auch Mitarbeiter der Einrichtungen, Nachbarn, Verwandte. Was die Forscher überrascht hat: „Als die Vorfälle in Martinsbühel und anderen Heimen vor Jahren ans Licht kamen, wurde das Thema breit diskutiert. Öffentliche Stellen haben reagiert und auch eine Anlaufstelle für Opfer eingerichtet. Dennoch gibt es gar nicht wenige Betroffene, die nichts davon wissen“, stellt Friedmann fest.

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Die Methoden für physische und psychische Gewalt an Schützlingen haben an unterschiedlichen Orten sehr ähnlich ausgesehen.

Ina Friedmann

Bisher bereits mehr als 60 Interviews geführt
Mehr als 60 Interviews haben die Forscher mittlerweile geführt. Sogar aus der Schweiz, den Niederlanden oder aus Kanada haben sich ehemalige Heimkinder gemeldet. Was sie erzählen, muss nun zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Noch sind es viele Puzzleteile – viele erschreckend ähnlich in ihrer Düsternis. „Die Methoden für physische und psychische Gewalt an Schützlingen haben an unterschiedlichen Orten sehr ähnlich ausgesehen“, konstatiert Friedmann. Aber nicht alle denken mit Grauen zurück. Stepanek berichtet von Betroffenen, „die die Heimzeit als positiv erfahren haben“.

Nicht selten seien das jedoch Kinder gewesen, „die in der Herkunftsfamilie massiver Gewalt ausgesetzt waren und die Heimunterbringung tatsächlich als Verbesserung empfunden haben“.

Zeitzeugen von großer Bedeutung
Die beiden Forscher betonen, dass jede Geschichte wertvoll für ihre Arbeit sei. Wie lief der Alltag im Heim ab? Wo und wie wurde Gewalt gegen Heimkinder ausgeübt? Was war schon damals bekannt, was passierte hinter verschlossenen Türen? Unter welchen Umständen hat sich die Situation verbessert? Fragen wie diese sollen beantwortet werden. Es geht aber auch um das oft sehr belastete Danach. Wie konnten Heimkinder – häufig ohne Berufsausbildung – ihr Leben meistern? „Die Erinnerungen der Zeitzeugen sind für die Studie von großer Bedeutung“, sagt Stepanek.

„Bitte, bitte, holt mich aus dem Heim“
Viele erschütternde und traurige Details haben die Wissenschafter gehört. Stepanek fällt spontan die Erzählung eines ehemaligen Schützlings ein, der seine Pflegeeltern in einem Brief anflehte, ihn nach Hause zu holen: „Der Brief landete bei der Heimleitung, weil das Kind ihn in ein falsches Postfach geworfen hatte.“ Als Lügner sei das Kind gebrandmarkt worden, habe sich nie wieder aufgelehnt.

„Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst“
Im Frühling 2022 soll die Studie abgeschlossen sein und veröffentlicht werden. Bis dahin werden Friedmann und Stepanek wohl noch einige Interviews führen. Sie suchen nach wie vor Zeitzeugen und formulieren gleichzeitig ihren großen Dank an alle, die sich melden: „Wir sind uns der Verantwortung bewusst und wissen es zu schätzen, dass uns die Menschen ihre Geschichte anvertrauen.“

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