„Krone“-Interview

Viagra Boys: Gossenglamour mit Selbsterkenntnis

Musik
08.01.2021 06:00

Mehr als zwei Jahre nach ihrem gefeierten Debütalbum „Street Worms“ melden sich Stockholms Paradeanarchisten Viagra Boys mit dem Zweitwerk „Welfare Jazz“ im Rampenlicht zurück. Klanglich und inhaltlich so dermaßen dezent gereift, dass die partiell vorhandene Redundanz unwiderstehlich kokett erklingt.

(Bild: kmm)

Selbsterkenntnis ist nicht immer einfach. Das weiß jeder, der sich hin und wieder kritisch hinterfragt und sein Dasein auf diesem Erdenrund nicht für unfehlbar gottgegeben hält. Anfang 2021 weiß es niemand besser als Sebastian Murphy, Sänger, Frontmann und Sprachrohr der gehypten Viagra Boys. Diese leiten ein hoffentlich besseres Jahr mit ihrem zweiten Album „Welfare Jazz“ ein, das sich bewusst nicht um die Plagen von Corona, Weltpolitik oder die Klimakrise dreht, sondern puren Egoismus zelebriert. Murphy macht das bereits im Opener „Ain’t Nice“ unmissverständlich klar, wo er rüpelhaft und rücksichtslos durch die Vororte Stockholms wankt und dabei nichts als verbrannte Erde hinterlässt. Die im dazugehörigen Video zur Schau gestellte Ästhetik erinnert nicht von ungefähr an den britischen Middle-Class-Proleten Richard Ashcroft, der im Video zum legendären The Verve-Song „Bittersweet Symphony“ eine ähnliche Fuck-You-Attitüde an den Tag legte. Überhaupt die Briten. Aufrührer und Systemsprenger wie die Sleaford Mods, die Idles oder Shame werden immer wieder mit den Schweden verglichen. Einerseits ob des vertonten Post-Punk-Korpus, andererseits durch die bewusst in die Auslage gestellte grundanarchische Hochnäsigkeit.

Satire und Selbsterkenntnis
„Wir alle haben vielleicht dieselbe rebellische Natur, aber wir klingen nicht wie diese britischen Bands“, wirft Murphy - ganz dem Klischee entsprechend - lustlos und gelangweilt im Gespräch mit der „Krone“ ein, „ich bin mir sicher, dass diese Jungs genau wie wir auf alten Punk und Rock stehen. Auf Bands mit Attitüde und Meinung. Aber vom musikalischen Zugang sind wir grundverschieden.“ Das stimmt natürlich, denn der eigentlich aus den USA stammende Murphy hat sich in den fünf Jahren Bestehen der Viagra Boys als König ironisch konnotierter Satire erwiesen. Der bei den feurigen und von ihren Fans fast wie (un)heilige Messen gefeierten Liveshows in den Vordergrund gekehrte Sexismus mit dem Hang zum Patriarchat ist subtil überspitzt und kritisiert exakt jene, die sich fon Murphys nonchalanter Persiflage falsch angesprochen fühlen. Gleichzeitig ist sich der leidenschaftliche Trainingsanzugsträger aber nicht zu nobel zuzugeben, dass er abseits der künstlerischen Performance doch auch ein richtiges Arschloch sein kann. Diese Haltung kostete Murphy über die Jahre Beziehungen, Freundschaften und Seilschaften.

„Als ich ,Ain’t Nice‘ schrieb war es für mich nicht schwierig, mich in diese Lage zurückzuversetzen. Mich zu ändern war ein langer, mühevoller Prozess, der mindestens ein Jahr gedauert hat. Und wer weiß ob die Entwicklung schon abgeschlossen ist? Hinter der nächsten Ecke lauert schon die nächste Gefahr, die von mir Besitz ergreifen könnte.“ So sehr Murphy seine Unsicherheiten hinter humoriger Coolness verstecken will, so autobiografisch ist der Nachfolger des europaweit gefeierten 2018er Debüts „Street Worms“ schlussendlich ausgefallen. Bereits im dritten Track „Toad“ konterkariert Murphy seine späte Reue mit der Textzeile „I’m never gonna be the man you want me to, I’m a rebel `til I die“ und hinterlässt beim aufmerksamen Hörer neue Fragezeichen. Die Unentschlossenheit Murphys dient ganz simplen Zielen. „Wenn ich mit dem Image des asozialen Rock’n’Roll-Rebellen mehr Alben verkaufe, dann bin ich das eben“, lacht er nuschelnd ins Telefon, „manchmal hat man Lust auszuflippen, aber heute liege ich lieber auf der Couch herum oder verbringe Zeit mit meiner Freundin. Unsere Videos und unsere Songs sind trotzdem Rock’n’Roll-Statements, weil einfach alles, was wir tun, Rock’n’Roll ist.“

Direkt aus dem Herzen
Den Viagra Boys ist eine vernebelte Form von Undurchsichtigkeit wichtig. An den verschachtelten und oftmals unlogisch wirkenden Album- oder Songtitel kann man die Gemütslage der Stockholmer nicht festlegen. Man muss sich schon die Mühe machen, aktiv zuzuhören und zwischen den Zeilen zu lesen. So bezieht sich der Albumtitel „Welfare Jazz“ offenbar nicht auf das Gerücht, die Band würde damit die schwedische Regierung kritisieren, die während Corona ihre Subventionen lieber der Hochkultur zukommen ließe und die Populärmusik im Stich lasse. „Dass die Hochkultur mehr Unterstützung bekommt als eine Band wie wir, das ist Tatsache“, lässt sich Murphy nicht in die Karten blicken, „andererseits tun mir Jazzmusiker leid, denn wenn sie nicht auftreten können, verdienen sie auch kein Geld. Möglicherweise sollte ich das nächste Mal einfach ein bisschen besser darüber nachdenken, bevor ich mit solchen Fragen konfrontiert werde.“ Lieber doch nicht die Hand beißen, die einen eventuell füttert? Das ungestüme, ungezwungene Party-Feeling vom Debüt haben die Viagra Boys am Zweitwerk einer versteckten Ernsthaftigkeit geopfert. „Wir haben nie große Visionen und keinen großen Plan, nehmen die Musik aber ernst. Natürlich wollen wir, dass die Songs gut sind und die Leute sie gerne hören. Die Viagra Boys sind Bass, Gitarre, Schlagzeug, Gesang und Ehrlichkeit. Es kommt alles direkt aus dem Herzen.“

Großflächige Veränderungen haben die Schweden bewusst vermieden, was aufgrund des Senkrechtstarts vor zwei Jahren logisch war. Dennoch haben die Viagra Boys ihren Sound breitflächiger und mutiger angelegt. Ein wiederkehrendes Klangmotiv auf „Welfare Jazz“ ist ein untrügliches Western-Feeling. Sei es bei der Tom Waits-Verbeugung „Into The Sun“ oder beim abschließenden John Prine-Cover „In Spite Of Ourselves“, das sich die Viagra Boys ganz ohne Verhöhnung, aber mit viel inspiratorischer Liebe zu Eigen machen. Auf dem Song ist zudem Amyl And The Sniffers-Frontfrau Amy Taylor zu hören, womit sich unbewusst doch wieder der Kreis zu den eingangs erwähnten Briten schließt. Die hochtalentierte Frontfrau ist auch auf dem in Kürze erscheinenden neuen Album der Sleaford Mods zu hören. Daneben dürfen bandtypische Ausritte wie das Saxofon-Solo „Cold Play“ und die krude Hundeverbeugung „This Old Dog“ nicht fehlen. „Ich würde sagen, wir bestehen zu 50 Prozent aus Ernsthaftigkeit und zu 50 Prozent aus Humor. Ich bin selbst keine sonderlich ernsthafte Person und es fällt mir leichter, Themen mit Humor zu vermitteln. Ich weiß aber nicht, ob ich immer die richtige Balance erwische.“

Chaos mit Inhalt
Die Ausgewogenheit zwischen einer spürbar dazugewonnenen Reife und der postpunkigen Trash-Disco machen die Magie von „Welfare Jazz“ aus, das - wie passend - ironischerweise erwachsener als das Debüt klingt, ohne sich allzu sehr aus dessen Windschatten zu bewegen. Den ständigen Kampf gegen Sexismus, toxische Männlichkeit oder Klassendiskriminierung haben Murphy und Co. wieder dermaßen gut in Metaphern und Partykrachern versteckt, dass man sich die tiefergreifenden Inhalte hinter den oftmals stupiden Barrieren erhören muss. „Chaos. Das ist das absolut richtige Wort für unseren Sound“, beschreibt der Sänger das Klangkonglomerat seiner Band, das auf eine abgedrehte Art und Weise Gossenglamour und pure Musikliebe versprüht. Oder wie es Murphy auf den Punkt bringt: „Nach den letzten Jahren und Erlebnissen sind wir etwas reifer und gediegener geworden. Derzeit sitze ich lieber in Parks und rieche an Blumen, anstatt mir Ärger einzuhandeln. Ich hoffe nur, das hört man unserer Musik nicht an.“

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