Für Bundeskanzler Sebastian Kurz (34) ging das türkis-grüne Premierenjahr mit einer Jahrhundert-Pandemie zu Ende. Ein Interview über einen vierten Lockdown, Impfpflicht durch die Hintertüre, die Nachbestellung von Impfdosen & Warnung des EU-Rats vor einer noch stärkeren dritten Welle.
Bundeskanzleramt, es ist Sonntagmittag zwischen den Weihnachtsfeiertagen. Während Jogger und Gassigeher im Volksgarten bei Eiseskälte ihre Lockdown-Runden drehen, patrouilliert die Cobra schwer bewaffnet vor dem Areal. Corona und islamistischer Terror haben viel verändert im Land. Von Ferienstimmung ist nicht viel zu merken.
Auch der Kanzler arbeitet mehr oder weniger durch und kommt an diesem Sonntag direkt von der MedUni, wo am Vormittag die ersten Impfungen verabreicht wurden: „Ein historischer Moment und ein Wendepunkt in der Pandemie.“ Sebastian Kurz (34) wirkt zumindest nach den Feiertagen dieses extrem schwierigen Jahres wieder etwas ausgeschlafener.
„Krone“: Herr Bundeskanzler, haben Sie sich auch schon impfen lassen?
Sebastian Kurz: Leider noch nicht, da der Impfstoff derzeit noch sehr begrenzt ist und Ältere sowie Risikogruppen klar Vorrang haben. Ich werde mich aber ehestmöglich impfen lassen.
Man könnte auch meinen, dass der Kanzler vorrangig geschützt und daher geimpft sein sollte?
Ich denke, dass der Impfplan mit den Priorisierungen der genannten Gruppen richtig ist. Aber ich bekomme natürlich auch Mails, wie: „Na, wenn der Impfstoff eh so sicher ist, dann lassen Sie sich doch zuerst impfen!“ Wenn das die Skeptiker beruhigen würde, würde mich das natürlich schon reizen. Ich habe jedenfalls absolutes Vertrauen in den Impfstoff und freue mich schon, wenn wir dadurch unser altes Leben ohne all die Einschränkungen zurückbekommen.
Sicher das forderndste Jahr meines Lebens, obwohl ich von Migrationskrise bis zum Ibiza-Skandal schon viel erlebt hab.
Sebastian Kurz
Sie haben völlig richtig gesagt, dass der Impfstoff derzeit noch sehr knapp ist. Eigentlich viel zu knapp. Israel, das Sie immer gerne als Maßstab nehmen, hat derzeit bereits fast schon so viele Menschen geimpft, wie wir erst Ende März geschafft haben werden. Dann kann dort bereits jeder Zweite zweimal geimpft und geschützt sein. Das ist Weltspitze. Im aus der EU ausgetretenen Großbritannien jeder Dritte, in den USA dank des „unfähigen Trump“ ebenfalls jeder Dritte. In Deutschland aber aller Voraussicht nach nicht einmal jeder Zehnte. In Österreich nur jeder 16. (Anm.: Das wären 550.000 Personen auf Basis 1,1 Mio. Dosen für zwei Teilimpfungen von Moderna und Biontech). Ist die gemeinsame Einkaufspolitik der EU gescheitert, die hauptsächlich auf weniger erfolgreiche Hersteller gesetzt hat?
Alles, was wir über den Weg der europäischen Beschaffung kaufen können, werden wir kaufen. Wir haben bereits zugesagte 3,5 Millionen Dosen von Biontech/Pfizer und weitere zugesagte zwei Millionen. Somit jedenfalls 5,5 Millionen Dosen alleine von Biontech/Pfizer über die EU. Darüber hinaus sind wir mit den derzeit führenden Pharmaunternehmen, v.a. mit Biontech seit Wochen in Kontakt. Wenn es die Möglichkeit gibt, zusätzliche Dosen bilateral zu beschaffen, werden wir das tun. Das Gleiche versucht ja auch Deutschland. Biontech hat mit Professor Christoph Huber einen österreichischen Gründer, dem ich Ende November ein Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik verleihen durfte für diesen für uns alle lebensverändernden Forschungserfolg. Wir haben auch einen bedeutenden Zulieferer in Klosterneuburg, auf den wir sehr stolz sind.
Aber selbst als die ersten Zulassungen klar waren, hat die EU noch das Angebot von Pfizer/Biontech und Moderna ausgeschlagen, deutlich größere Lieferungen zu bekommen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist eigentlich studierte Infektiologin mit Schwerpunkt Öffentliche Gesundheit. Müsste man von jemandem wie ihr nicht etwas mehr Weitblick erwarten?
Corona hat im Frühling von einem Tag auf den anderen die Welt verändert und alle sehr gefordert. Ich bin froh, dass wir damals in Österreich durch den Lockdown und die Grenzschließungen sehr schnell reagiert und damit Schlimmeres verhindert haben. Auch wenn dies auf europäischer Ebene zuerst Kritik hervorgerufen hat, hat es sich am Ende als richtig herausgestellt. Einen gemeinsamen Beschaffungsprozess aufzusetzen, damit nicht jedes Land auf sich alleine gestellt im Wettbewerb mit Staaten, wie USA, Russland oder China steht, ist genau so ein Bereich, wo es um europäische Zusammenarbeit geht. Ich bin sehr froh, dass Ursula von der Leyen einen solchen Prozess aufgesetzt hat und er gut funktioniert.
Von der Leyen hat neulich betont, dass Österreich mehr Impfdosen bekommen wird, als wir überhaupt brauchen würden. Nur: Wann? Hoffentlich nicht erst nach der Pandemie.
Es stimmt, ein schneller Start ist hier enorm wichtig, um schnellstmöglich wieder aus der Krise zu kommen. Daran arbeiten wir mit Hochdruck.
Vor allem im Herbst hatte man oft den Eindruck, dass Ihnen die Reaktionen von Gesundheitsminister Anschober auf den exponentiellen Anstieg der Infektionen zu langsam und zu lasch waren. Halten Sie ihn für überfordert?
Das war eine riesige Herausforderung für alle, auch für ihn und das ganze Ministerium. Aber wir arbeiten gut zusammen.
Wird es die oft zitierte Impfpflicht durch die Hintertüre geben? Also „frei-impfen“ statt „frei-testen“?
Es bleibt die persönliche Entscheidung jedes Einzelnen. Vonseiten der Regierung wird es keine Impfpflicht geben. Es kann aber sein, dass Fluggesellschaften oder Veranstalter Vorschriften erlassen. Viele Staaten in einigen Gebieten der Welt setzen auch jetzt schon bei der Einreise auf Impfungen, z.B. bei Hepatitis, Gelbfieber, Malaria oder Typhus. Das könnte in Zukunft bei Corona ähnlich sein.
Ich hatte Entscheidungen zu treffen, die keiner treffen wollte.
Sebastian Kurz
Sie haben kürzlich gesagt, dass „das erste Quartal 2021 noch sehr, sehr düster“ wird. Wie haben Sie das gemeint?
Uns war immer klar, dass auch die nächsten Monate noch aufgrund der kälteren Temperaturen und des schlechteren Immunsystems sehr fordernd werden. Die dritte Welle trifft viele Länder, wie Tschechien oder die Niederlande, jetzt schon schwer. Das sind Vorboten für eine Entwicklung auch bei uns. Bis relevante Gruppen geimpft werden, wird es noch dauern. Eine Entspannung durch Impfung und steigende Temperaturen erwarte ich erst im Sommer.
Was ist Ziel des aktuellen Lockdowns bzw. schließen Sie einen möglichen vierten im März aus?
Einen vierten Lockdown ausschließen kann derzeit leider niemand. Beim letzten EU-Rat in Brüssel haben viele davor gewarnt, dass eine dritte Welle über uns hereinbrechen wird, vielleicht sogar stärker als die zweite, und die Ansteckungszahlen in vielen europäischen Ländern wieder extrem ansteigen werden. Wir müssen daher unsere Intensivstationen darauf vorbereiten und eine mögliche Triage auch weiterhin verhindern. Das war und ist unser Ziel. Viel hängt unter anderem davon ab, wie weit wir durch unsere Disziplin die Ansteckungszahlen im Zaum halten können. Darüber hinaus gibt es noch Faktoren, die wir nicht beeinflussen können, wie z.B. ansteckendere Mutationen, wie derzeit in Großbritannien und Südafrika, oder wie lang der Winter andauert.
Einen vierten Lockdown ausschließen kann derzeit leider niemand.
Sebastian Kurz
Ein Thema, das die EU auch noch massiv belasten wird, ist der Brexit. Welche Nachteile haben die Briten jetzt mit ihrem wacker ausverhandelten Freihandelsabkommen - außer dass sie künftig einen Haustierpass benötigen und nicht am Corona-Aufbaufonds der EU mitzahlen dürfen?
Der wesentliche Nachteil ist, dass Großbritannien nicht mehr Teil des Binnenmarkts ist. Aber ich gehöre nicht zu jenen, die behaupten, dass Großbritannien nun untergehen wird. Es ist für uns alle negativ, dass die Briten die EU verlassen haben. Mein Ziel ist eine weitere enge Kooperation, wie sie nun auch sichergestellt ist.
In vier Tagen feiert die türkis-grüne Koalition ihren ersten Geburtstag. Wie ist Ihr Résumé?
Wir sind zwei unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Zugängen und es funktioniert. Vor allem mit Vizekanzler Werner Kogler arbeite ich gut zusammen. Neuwahlgerüchte entspringen der Fantasie der Opposition.
Eigentlich sind Sie angetreten, um das Land zu gestalten - ist es nicht frustrierend, nun gegen Corona und den Abstieg zu kämpfen?
Plötzlich mussten wir, wie andere Staaten auch, ganze Wirtschaftszweige schließen, Ausgangsbeschränkungen verhängen und erwachsenen Menschen vorschreiben, wann sie sich mit wem treffen dürfen. Ich hatte Entscheidungen zu treffen, die keiner treffen wollte. Und obwohl ich von Migrationskrise bis zum Ibiza-Skandal schon viel erlebt hab, war das sicher das forderndste Jahr meines Lebens. Um Österreich zu alter Stärke zurückzuführen, sind Reformen nun wichtiger denn je.
Plötzlich mussten wir erwachsenen Menschen vorschreiben, wann sie sich mit wem treffen dürfen.
Sebastian Kurz
Woher nehmen Sie die Kraft?
Ich bin dankbar, dass ich ein großartiges Team habe, mit dem ich arbeiten darf; und eine Familie, die mir den Rücken stärkt, auch wenn uns in der Familie die spontanen Treffen und die Umarmungen schon sehr abgehen - so wie anderen Menschen auch. Kraft schöpfe ich zudem aus dem Sport, wo ich einmal im Monat versuche, eine Bergtour auf die Rax oder den Schneeberg zu unternehmen oder zwischendurch laufen zu gehen. Aber am meisten motiviert mich, dass wir wissen, dass diese Krise nicht von Dauer sein wird und dass wir im Sommer wieder zur Normalität zurückkehren können. Auf harte Monate werden wieder gute Jahren folgen!
Edda Graf, Kronen Zeitung
Kommentare
Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.
Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.
Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.