Neuer Broterwerb

Ukraine: Viele demonstrieren nur noch für Geld

Ausland
27.01.2012 10:05
Massenauflauf in Kiew: Tausende demonstrieren gegen den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. Auch Nikolai ist dabei - obwohl er mit Janukowitschs Politik einverstanden ist. Der Student protestiert nicht aus Überzeugung, sondern aus Finanznot. "Ich bin hergekommen, weil ich unbedingt Geld für ein Geschenk brauche", erzählt er. Nikolai gehört zu einer stark wachsenden Gruppe in der Ex-Sowjetrepublik: professionellen Demonstranten. Für eine Handvoll Griwna, der Landeswährung, protestieren sie gegen alles und jeden.

Vor allem soziale Netzwerke im Internet wimmeln vor Anzeigen: "Dringend! Demonstranten gesucht. Metrostation Arsenalnaja." Ganz offen rekrutieren und vermitteln Personalagenturen Statisten. Einige Unternehmen spezialisieren sich sogar ganz auf Aushilfsdemonstranten und haben lange Telefonlisten griffbereit in der Schublade. Auftraggeber sind politische Parteien oder private Sponsoren. Auch in anderen früheren Sowjetrepubliken werden immer öfter Protestteilnehmer bezahlt.

Junge, Alte, Arbeitslose und Obdachlose
Eine SMS lotst Interessenten zum Treffpunkt. "Morgen auf dem Maidan-Platz. Arbeit von 10 bis 13 Uhr. 40 Griwna", heißt es darin. 40 Griwna sind etwa vier Euro - ein willkommener Nebenverdienst bei einer Mindestpension von 800 Griwna und einem Mindestlohn von 1.004 Griwna. Es sind vor allem jüngere Leute, Arbeitslose und ältere Menschen, die ihr karges Einkommen aufbessern wollen. Auch Obdachlose werden immer wieder bei den Kundgebungen gesichtet. Zu Wahlkampfzeiten bestreiten Profi-Demonstranten auf diese Weise sogar ihren Lebensunterhalt. Und so mancher hat sich bereits den Oktober rot im Kalender notiert: Für den 28. des Monats sind Parlamentswahlen geplant.

Am Demonstrationsort angekommen, weist ein Aufseher die Statisten in ihre Arbeit ein. "Heftet euch einen leuchtenden Aufkleber an, dann sieht man euch besser", befiehlt er laut einer Reportage in der aktuellen Ausgabe der ukrainischen Wochenzeitschrift "Ukrainski Tischden". Der "Supervisor" lässt die Demonstranten in Fünfer-Reihen antreten und drückt ihnen noch rasch eine Fahne in die Hand. Dann geht es los.

Die Politikverdrossenheit in der Ukraine ist groß. Vor sieben Jahren machte die prowestliche Orangene Revolution vielen Menschen noch Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch die einstigen Anhänger sind von den damaligen Anführern - darunter die im Oktober vergangenen Jahres zu sieben Jahren Haft verurteilte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko - enttäuscht. Doch auch dem amtierenden Staatschef Janukowitsch traut ein Großteil der insgesamt 45 Millionen Ukrainer keinen Ausweg aus der Krise zu.

"Am besten ist, direkt vor den Kameras zu arbeiten"
Deshalb müssen mittlerweile alle politischen Parteien für ihre Kundgebungen auf bezahlte Statisten zurückgreifen - der Mangel an eigenen Anhängern, die bereit sind, für ihre Ideale auf die Straße zu gehen, ist groß. Mindestens die Hälfte der Teilnehmer kassiert, schätzen Beobachter. Für die Politik im zweitgrößten Flächenstaat Europas ist diese Entwicklung verheerend. "Derzeit sind fast alle politischen Kundgebungen bezahlt", sagt Berufsdemonstrant Igor. "Am besten ist, in einer Massenszene direkt vor den Kameras zu arbeiten. Dann wird ohne Verzögerung und vollständig gezahlt."

Gegen die Kommerzialisierung der Politik regt sich nur vereinzelt Widerstand. Lediglich die für ihre Nackt-Proteste bekannte Frauengruppe "Femen" machte jüngst mit einer Aktion auf das Problem aufmerksam: Unter dem Motto "Beseitige die Parasiten" besprühten die als Kammerjägerinnen verkleideten Aktivistinnen Demonstranten mit Wasser.

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