Knapp 150.000 Asylwerber drücken derzeit in Österreich die Schulbank - ein kleines Land steht vor einer der größten Bildungs- und Intergrationsherausforderungen seit Langem. Wie schaffen es Schulen, Kinder und Jugendliche - schwer traumatisiert und eben noch auf der Flucht - in ein Gesellschafts- und Schulsystem zu integrieren, das kulturell völlig von dem ihrer Herkunftsländer abweicht? krone.at hat die Flüchtlingsklasse der HTL Mödling besucht.
9.45 Uhr, Raum 205. Auf dem Stundenplan steht Deutsch als Zweitsprache. An der Tafel kleben viereckige Papierstücke. Die Schüler sollen ein Rätsel rund um das Thema Silvester lösen. Hamza (Name von der Redaktion geändert), ein junger Flüchtling im Alter von 19 Jahren, knobelt noch an der richtigen Antwort. Heißt es nun "an Silvester" oder "zu Silvester"? Ein Chor aus männlichen Stimmen ruft "zuuuuu Silvester!". Lehrerin Manuela Marchi versucht ihren 21 Schülern und ihrer einzigen Schülerin auf spielerische Weise Satzbaukonstruktionen sowie die Anwendung der richtigen Präpositionen beizubringen.
Die Übergangsklassen der HTL Mödling
3400 Schüler und 22 geflüchtete Jugendliche lernen hier Seite an Seite. An der HTL Mödling gilt: Bevor neu zugezogene Flüchtlinge in den regulären Unterricht integriert werden können, müssen sie Deutsch lernen. In sogenannten Übergangsklassen erhalten die Schüler gemeinsamen Deutschunterricht. Zusätzlich sitzen sie einige Stunden pro Woche in regulären Schulklassen, wo sie einen Einblick in das fachspezifische Angebot der HTL erhalten. So werden sie nicht nur in den Fächern Deutsch, Mathematik, Geografie, Sport und Ethik unterrichtet, sondern haben auch die Möglichkeit, sich in den Werkstätten der HTL handwerklich zu betätigen. Gleichzeitig sollen die Schüler so auch soziale Kontakte zu österreichischen Altersgenossen knüpfen.
Nach knapp einem Jahr sollen sie bereit sein für die Aufnahmeprüfung der HTL und den regulären Schulunterricht. Im Vorjahr schafften zwölf der 22 Schüler der Übergangsklasse die Aufnahmeprüfung für die Fachrichtungen der HTL Mödling. Ziel für heuer ist es, noch mehr Schüler auf die weiterführenden Schulen zu schicken.
Hauptsache arbeiten
Rudolf Razka, Leiter des Lehrgangs für Jugendliche ohne Deutschkenntnisse, ist überrascht, wie lern- und arbeitswillig die Jugendlichen trotz ihrer traumatischen Flucht- und Kriegserfahrungen sind. "Sie sind sehr fokussiert und motiviert", erzählt er. Sie wollen Deutsch lernen, damit sie einen Job finden. Im Vordergrund steht für sie erst einmal das Überleben. "Natürlich würden sie am liebsten als Ärzte oder Rechtsanwälte arbeiten, aber Hauptsache arbeiten", sagt er.
Viele der Schüler sind allerdings 18 oder älter. Da ist die Bereitwilligkeit, noch weitere vier Jahre die Schulbank zu drücken, eher gering. Sie wollen arbeiten gehen, Geld verdienen und sich ein selbstständiges Leben aufbauen. "Aufgrund dessen wird versucht, ihnen nach einem Jahr die Abschlussprüfung für die Pflichtschule abzunehmen. So haben sie zumindest einen österreichischen Abschluss in der Tasche", sagt Razka.
Teilweise haben diese Schüler auch schon Abschlüsse aus ihren Herkunftsländern, auf der Flucht denkt man aber nicht sofort daran, seine Zeugnisse einzupacken. Der Nachweis bzw. die Anerkennung von Schulbildung und Schulabschlüssen ist daher kaum möglich. Somit bleibt ihnen nur eines übrig: Pflichtschulabschluss oder noch weitere vier Jahre die Schulbank drücken.
"Junge islamische Frauen alleine auf der Flucht gibt es einfach nicht"
In der Übergangsklasse von Deutschlehrerin Manuela Marchi sitzt ein junges Mädchen inmitten 21 junger Flüchtlinge. Schaut man sich im Klassenzimmer um, fällt sie beim ersten Blick kaum auf. In der vorletzten Reihe, direkt am Fenster sitzt Zada (Name von der Redaktion geändert). Ihr blaues Kopftuch hat sie leicht um ihren Kopf gewickelt. Die eine oder andere Haarsträhne fällt ihr ins Gesicht. Auf die Frage der Deutschlehrerin, was am 25. Dezember in Österreich gefeiert wird, antwortet sie leise aber bestimmt: "Christtag".
Für Direktor Harald Hrdlicka war es ein persönliches Anliegen, auch viele Flüchtlingsfrauen an seiner Schule aufzunehmen. Problematisch ist umso mehr, dass es kaum junge unbegleitete weibliche Flüchtlinge gibt. Die meisten Flüchtlinge sind junge Männer, die von ihren Familien vorgeschickt werden, oder ganze Familien, in denen die Mädchen ohnehin noch schulpflichtig sind. "Junge islamische Frauen alleine auf der Flucht gibt es einfach nicht", sagt Hrdlicka.
"Meine Großmutter trug auch Kopftuch"
Hrdlicka ist stolz auf das Engagement seiner Schule. Begleitet werden die Maßnahmen vom Verein "Connect" in Mödling, einem Flüchtlingsnetzwerk. "Natürlich gibt es an einer multikulturellen Schule auch hin und wieder Schwierigkeiten. Aber bisher haben wir noch keine großen Probleme gehabt", so Hrdlicka. Der Umgang mit dem Kopftuch ist für ihn kein Thema: "Meine Großmutter hat auch ein Kopftuch getragen", sagt Hrdlicka. "Wenn die Identität eines Menschen klar festgestellt werden kann, ist mir die restliche Erscheinung religiöser Attitüden relativ egal."
Eine unüberwindliche Grenze für Direktor Hrdlicka ist allerdings die Gesichtsverschleierung: "Ein Grundprinzip der österreichischen Leistungsfeststellung ist die Mitarbeit - und wenn diese nicht mehr gewährleistet ist, weil ich mein Gegenüber nicht mehr identifizieren kann, dann geht das nicht." Auch die Nichtteilnahme am gemeinsamen Schwimmunterricht steht bei ihm nicht zur Diskussion: "Solange Schwimmen Teil des Lehrplans von Bewegung und Sport ist, ist es fixer Bestandteil des Unterrichts. Auch der Europäische Gerichtshof hat so entschieden und ich sehe das ebenso."
Eine multikulturelle Schule mit Feingefühl
An der HTL Mödling wird Integration groß geschrieben. Hier sind laut Razka 75 Muttersprachen vertreten. Der Umgang mit Multikulturalität und Diversität an der größten multikulturellen Schule des Landes gehört zur Tagesordnung. Aus diesem Grund sieht er es auch als besonders wichtig an, die Integration von Flüchtlingen aus dem Arabisch sprechenden Raum richtig anzugehen: "Wir haben zwei völlig verschiedene Gesellschaftsstrukturen vor uns. Wir müssen wertschätzend integrieren. Wir können nicht die Leute brechen, die herkommen, sondern müssen sie Schritt für Schritt an die neue Kultur heranführen. Das ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen geschieht. Das bedarf Zeit und Geduld."
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