Russland und der Krieg

Harvard-Professor: „Wie naiv wir doch waren!“

Österreich
11.04.2024 18:00

Der brutale russische Angriffskrieg sei „schlimm für alle, auch für die russischen Interessen, aber ich sehe auch keinen, der in Putins Büro geht und übernimmt“, gab der renommierte ukrainischstämmige Historiker und Harvard-Professor Serhii Plokhy am Donnerstag beim Zeitgeschichtetag in Graz zu bedenken. Plokhy hielt die Keynote-Speech zu der Tagung, veranstaltet vom Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung und der Uni Graz. Ein baldiges Ende des Konflikts erwarte er nicht, auch keine schnellen Veränderungen im flächenmäßig größten Land der Welt. Schließlich passiere eine gesellschaftliche Veränderung nicht über Nacht, so der Historiker.

„Wir sehen eine neue Periode für Europa und die Weltgeschichte, die auch vom Ausgang des Krieges Russlands gegen die Ukraine abhängt – des größten Krieges in Europa seit 1945“, führte der Historiker, der den Lehrstuhl für ukrainische Geschichte an der US-Elite-Universität Harvard innehat, aus. Nun werde „unsere Geschichte, die unserer Kinder und die der nächsten 20 Jahre“ entschieden. Es sei tatsächlich eine Zeitenwende.

Ein Wendepunkt, den er ausmache, war Ende März, Anfang April 2022. Damals zeigte die Ukraine ihre Fähigkeit, der russischen Invasion standzuhalten und zurückzuschlagen. „Keiner hätte der Ukraine mehr als ein paar Tage gegeben, das hat auch der Westen so gesehen. Dann wurde eine Koalition für die Ukraine geschmiedet. Dann sind der Ukraine die Wunder ausgegangen, am Ende der Gegenoffensive“, schloss Plohky. „Nun sind wir bei einem mehr nüchternen Einschätzen der Lage, das ist der zweite Wendepunkt. Wir wissen nicht, was in Russland geschieht, aber ich glaube nicht, dass alle Toten und Verletzten, die nach Russland zurückkommen, die Botschaft (des russischen Machthabers Wladimir Putin, Anm.) produzieren, dass Ukrainer und Russen Brüder sind.“ Er glaube, die Russen seien nicht immun gegen die Einflüsse der Geschichte, auch wenn es derzeit so scheine.

„Der Widerstand hat die ukrainische Nation geschaffen, nicht Putin“
Zur Ausformung eines ukrainischen Gefühls - was Putin sträflich unterschätzt habe – meinte Plohky, das Bewusstsein der Massen produziere die Veränderungen. „Der Widerstand hat die ukrainische Nation geschaffen, nicht Putin“, sagte Plokhy nach den Triebfedern des Nation Building. Problematisch sei allerdings die Erwartung, dass Veränderungen – etwa hinsichtlich eines Regimewechsels in Russland – rasch kommen könnten. „Meine Generation hat die Perestroika-Jahre erlebt. Wir glaubten tatsächlich ans Ende der Geschichte und achteten nicht auf die Lehren der Geschichte. Wie naiv wir doch waren!“ Er erwarte keine schnellen Änderungen in Russland, denn die Gesellschaft könne nicht über Nacht transformiert werden. Und wenn, dann geschehe dies langfristig.

Putins Krieg ist auch ein Krieg der Russen
Der Angriff auf die Ukraine sei jedenfalls ebenso Putins wie auch der Russen Krieg, denn deren Unterstützung sei ja da. „Das ist schlimm für alle, auch für die russischen Interessen, aber ich sehe auch keinen, der in Putins Büro geht und übernimmt“, so der Harvard-Professor, der auch einige Bücher zum Thema („Die Frontlinie“, „Der Angriff“, „Das Tor Europas“) geschrieben hat. Es gebe nie nur den einen Wendepunkt. Er erinnerte an die beiden Tschetschenien-Kriege Russlands. Das seien prägende Erlebnisse gewesen. Daraus sei nicht nur Putin erwachsen, sondern auch die Haltung der Russen. Und man möge daran denken, dass bereits Putins Vorgänger Boris Jelzin mit Dekreten regierte, am Parlament vorbei.

Schwieriger Zugang zu Quellen
Für Historiker sei es schwierig, so Plokhy dazu, wie sehr der Krieg den Zugang zu Quellen und Archiven verändert habe. Es gebe natürlich Zerstörungen von Aufzeichnungen, einiges sei auch beim Rückzug von den Ukrainern vernichtet worden. Früher konnten seine Studenten jedenfalls sowohl in Russland als auch in der Ukraine arbeiten, immerhin habe es in der Ukraine das größte öffentlich zugängliche Ex-KGB-Archiv gegeben. Nun seien die Studenten in Moldawien, Polen, dem Baltikum tätig. „Aber das ist trotz des Krieges eine glückliche Fügung: Die Studenten bekommen sehr unterschiedliche und neue Zugänge und spezielle Perspektiven. Auch machen die Sozialen Medien ganz neue Möglichkeiten auf. Es geht wirklich darum, einen Nachteil in einen größtmöglichen Vorteil zu verwandeln.“ Dies wurde von Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Instituts für europäische Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz und Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, bestätigt: Es gebe leider derzeit wenige Zugänge zu Russland und der Ukraine, also baue man etwa die Kooperation mit Georgien aus, so die Universitätsprofessorin.

Westen muss wieder lernen, dass Werte nicht gratis sind
Auf die Frage, wie es mit einem möglichen US-Präsidenten Donald Trump um die Ukraine bestellt sei, antwortete Plokhy: „Das erinnert mich an eine Aussage von Winston Churchill: Man könne sich auf die USA verlassen, dass sie das richtige tun, aber erst, wenn sie alles andere versucht haben. Das kann man heutzutage übrigens auf den ganzen Westen ausdehnen.“ Ohne Zweifel sei das westliche ökonomische Model kraftvoll und produktiv. Aber die Bevölkerung im Westen müsse wahrscheinlich erst wieder lernen, dass Dinge wie Werte, Sicherheit und Wohlstand nicht gratis seien, nicht in einer Art Kalter-Krieg-Situation, in der man sich jetzt befinde

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