Betroffener erzählt

Leben mit Demenz: „Man fühlt sich sehr einsam“

Tirol
27.09.2022 19:00

Wie gehen Menschen mit wachsenden Gedächtnisstörungen um? Welche Hilfe brauchen sie und ihre Angehörigen? Ein Innsbrucker erzählt über sein Leben mit dem Vergessen und seine Enttäuschung darüber, wie alte Freunde auf seine Erkrankung reagieren. 

Technik war ein Berufsleben lang das absolute Spezialgebiet von Norbert Wieser. Er hat sein Wissen als Lehrer weitergegeben. Er hat als gefragter Fachmann die Welt bereist. Der Innsbrucker lächelt glücklich, wenn er von seinen Exkursionen rund um den Globus erzählt.

Heute ist die Welt von Norbert Wieser kleiner. Die Diagnose Parkinson und in der Folge eine beginnende Demenz haben den Bautechniker eingebremst. „So habe ich mir das Leben nicht gewünscht“, sagt er und hält dann inne. Wieser sucht nach den richtigen Worten. Die fallen ihm heute nicht mehr so schnell ein wie früher. Manchmal gar nicht. Meistens aber doch. „Ich musste aufhören zu arbeiten. Viel Freizeit habe ich jetzt, gewonnen ist damit aber nichts“, fasst der Innsbrucker seine Situation treffend zusammen.

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Die Gesellschaft übersieht die große Gruppe jener Menschen, die trotz Gedächtnisstörungen noch sehr gut selbstbestimmt leben können – und vor allem wollen!

Psychologin Christina Pletzer

Selbsthilfegruppe ist für Betroffene wichtiger Anker
Alle zwei Wochen besucht Wieser die Selbsthilfegruppe „Leben mit Vergessen“, organisiert von der Caritas. Hier wird über das Leben philosophiert und über die Vergesslichkeit. „Die Gesellschaft verbindet mit Demenz eine schwere Erkrankung mit starken kognitiven Einschränkungen. Wir übersehen dabei aber die weit größere Gruppe jener Menschen, die trotz Gedächtnisstörungen noch sehr gut selbstbestimmt leben können – und vor allem wollen!“, betont Christina Pletzer. Die Psychologin begleitet gemeinsam mit Petra Knoflach die Selbsthilfegruppe und berät Betroffene und Angehörige, wie sie den Alltag trotz Einschränkungen gut gestalten können. Ihre Erfahrungen hat Pletzer gemeinsam mit Peter Wißmann in dem im Oktober erscheinenden Buch „Das Leben meistern“ zusammengefasst (Infos unter: demenz-ratgeber.at).

Viele Berührungsängste im sozialen Umfeld
„Es schmerzt, wenn alte Freunde plötzlich nicht mehr anrufen und bei Zusammentreffen offenbar nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen“, beschreibt Norbert Wieser seine Erfahrungen mit dem erweiterten sozialen Umfeld. Seine Frau ist dem Innsbrucker die wichtigste Stütze im Alltag. Sie hilft ihm, sein Leben neu zu organisieren. Sie gibt Halt, wo Vertrautes für ihren Mann plötzlich nicht mehr greifbar ist. Eine große Aufgabe, für die sie sich mehr Unterstützung wünscht.

Persönliche Assistenten als wertvolle Stützen
Die Fachleute plädieren für den Einsatz von „persönlichen Assistenten“, ähnlich wie in der Behindertenhilfe. Diese Assistenten können Betroffene stunden- oder tageweise begleiten, ihnen bei Behördenwegen helfen, Reisen ermöglichen und ganz grundsätzlich die Teilnahme am öffentlichen Leben. Für Petra Knoflach liegen die Vorteile klar auf der Hand: „Angehörige werden entlastet und Betroffene gewinnen Autonomie.“

Persönliche Assistenz gibt es bisher nur für Menschen mit anderen Behinderungen. Bei beginnender Demenz kommt diese Leistung nicht zum Tragen. Und auch sonst fehlt es an Anlaufstellen. Pletzer berichtet, dass die Innsbrucker Selbsthilfegruppe eine von wenigen dieser Art in Österreich ist. Für Norbert Wieser sind die regelmäßigen Begegnungen „eine wichtige Zeit“. Hier trifft er Menschen in ähnlichen Situationen, kann sich mit ihnen austauschen und spürt, dass er und seine Frau nicht alleine sind. Ein entscheidender Punkt. „Sonst fühlt man sich sehr einsam“, beschreibt Wieser eine Empfindung, die viele Betroffene und ihre Angehörigen belastet.

Die Gesellschaft denkt noch nicht inklusiv
Demenz ist heute kein Tabuthema mehr, wird medial aufgegriffen und ist präsent. Die meisten Betroffenen verschwinden trotzdem aus dem öffentlichen Leben. „Weil die Gesellschaft leider nicht inklusiv denkt“, meint Pletzer, „da sind viele Ängste und Unsicherheiten im Spiel.“ Neben einer guten medizinischen und pflegerischen Versorgung sei es wichtig, Teilhabe zu ermöglichen. Knoflach nennt ein simples Beispiel: „Menschen mit Demenz möchten nicht auf Kultur verzichten, wenn sie immer schon gerne ins Theater oder in Konzerte gegangen sind. Aber es ist wichtig zu akzeptieren, dass sie vielleicht mitten in der Vorstellung aufstehen und gehen, weil sie müde sind.“

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Menschen mit Demenz möchten nicht auf Kultur verzichten, wenn sie immer schon gerne ins Theater oder in Konzerte gegangen sind. Aber es ist wichtig zu akzeptieren, dass sie vielleicht mitten in der Vorstellung aufstehen und gehen, weil sie müde sind.

Petra Knoflach von der Caritas

Auch Norbert Wieser ist müde geworden. Dennoch wirkt er zufrieden. „Es war ein schönes Gespräch“, lautet sein Kompliment in die Runde. Mitreden, wenn es um seine Anliegen geht – das ist ihm wichtig. Die Idee eines persönlichen Assistenten gefällt ihm. Was er mit diesem unternehmen würde? „Öfter eine Reise planen“, lautet die spontane Antwort. Unterwegs sein war immer eine große Leidenschaft des Innsbruckers. Das bleibt, auch wenn manche Erinnerung fehlt.

Tiroler Gesundheitsgespräche zum Thema Demenz 
Am Donnerstag, 29. September, starten in Innsbruck wieder die „Tiroler Gesundheitsgespräche“. Die Veranstaltungsreihe der Tirol Kliniken, dem Leitbetrieb der Gesundheitsversorgung in der Europaregion Tirol, Südtirol, Trentino, in Partnerschaft mit der „Tiroler Krone“ und ORF Tirol widmet sich zum Auftakt dem Thema Demenz und der Frage, wie man den Alltag meistern kann. Am Podium sitzen Mediziner Atbin Djamshidian-Tehrani von der Uni-Klinik für Neurologie in Innsbruck, Elisabeth Schöpf von der Plattform für eine demenzfreundliche Stadt Innsbruck (Verein VAGET), der Innsbrucker Norbert Wieser als Betroffener und Petra Knoflach von der Caritas als Assistenz. Die Veranstaltung findet um 20 Uhr im Studio 3 des ORF am Rennweg in Innsbruck statt. Aufgrund der beschränkten Sitzplätze wird um Anmeldung unter studio3.tirol@orf.at oder telefonisch unter 512/5343-26220 gebeten.

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