Hans-Peter Martin:

„Millionen Menschen werden auf die Straße gehen“

Vorarlberg
06.03.2022 07:30

In seinem Buch „Game Over“ beschrieb Publizist Hans-Peter Martin im Jahr 2018 einen bevorstehenden Systemcrash. Mit dem Krieg in der Ukraine scheint dieser empfindlich näher gerückt zu sein. Wie geht es weiter?

Krone: Herr Martin, in Ihrem Buch „Game Over“ haben Sie auch über einen möglichen Krieg geschrieben.
Hans-Peter Martin: Wie schon „Die Globalisierungsfalle“ sollte es eigentlich ein Warnruf sein, keine Prognose. Ich beschrieb ein Kriegsszenario zwischen Russland und der NATO, ausgelöst durch eine neue Super-Radarstation in Norwegen. Der Auslöser ist aber nebensächlich: Dieser Krieg ist wegen einer gekränkten russischen Gesellschaft ausgebrochen. Nach dem als Schmach empfundenen Ende der Sowjetunion ist Wladimir Putin wie ein Phönix aus der Asche aufgestiegen und will jetzt alte Größe erreichen.

Sie hören sich nicht gerade überrascht an.
Der konkrete Ort und die konkrete Zeit sind überraschend, aber nicht der heiße Krieg an sich. Er ist das Ergebnis zunehmender gesellschaftlicher Ungleichheit - und zweier Fehleinschätzungen.

Welche?
Die erste geht auf das Konto des Westens. Die führenden Kräfte glaubten nach dem Zusammenbruch der UDSSR, dass das liberale Gesellschaftsmodell nun „endgültig gesiegt“ hätte. Russland wurde gedemütigt. Michail Gorbatschow, den ich öfters persönlich treffen durfte, hatte den Kalten Krieg zu einem friedlichen Ende gebracht und erwartete sich ernsthafte Hilfe aus dem Westen, um eine soziale Demokratie aufzubauen.

Zu so einem Marshallplan, wie es ihn für Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg gab, kam es aber nicht. Der Fehler nach dem Ersten Weltkrieg, als sich unsere Vorfahren durch die Siegermächte gedemütigt sahen, wurde wiederholt. Damals erleichterte dies Adolf Hitlers Aufstieg, nun Putins.

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Die ganze Welt zittert derzeit vor einem Mann, der gegen das Völkerrecht handelt. Da stellt sich sicherlich die Frage nach dem Tyrannenmord.

Hans-Peter Martin

Und die zweite Fehleinschätzung?
Putin dachte wohl, die EU genug gespalten und Deutschland neutralisiert zu haben, sodass er sich leicht durchsetzen könnte.

Der Westen reagiert, sitzt aber wohl trotzdem in der Zwickmühle.
Wir befinden uns auf einer Talfahrt. Radikal zu Ende gedacht, wäre die Talsohle mit einem neuen großen Krieg erreicht, den der Westen wohl gewinnen würde. Und danach müssten wir Russland wirklich die Hand ausstrecken. Derzeit aber zittert die ganze Welt vor einem Mann, der brutal gegen das Völkerrecht verstößt. Da stellt sich sicherlich die Frage nach dem Tyrannenmord.

Ist das bei Putin nicht illusorisch?
Kenner betonen, dass Putin als Diktator auf Kritik an Aktionen, bei denen er schon zu weit gegangen ist, nicht mit Rückzug reagiert, sondern mit Aufdopplung. Also wie sonst stoppen?

Ja wie?
In der Geschichte finden sich Beispiele: Brutus, Stauffenberg. Je länger der Krieg dauert, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die NATO doch noch eingreift. Das kleinere Übel wäre dann wohl, Putin physisch und seine menschenverachtende Clique politisch und ökonomisch aus dem Verkehr zu ziehen - weg von den Schalthebeln der Macht.

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Die Frage ist nur noch, wann die große Rebellion kommt, nicht ob. Millionen werden auf die Straße gehen, weil es sich für sie nicht mehr ausgeht.

Hans-Peter Martin

Putins Krieg ist fatal, aber keineswegs der einzige Grund für die schwierige Weltlage.
Wir stecken in einer Wachstumsfalle. Wir brauchen Wachstum, um nach Corona Schulden zu tilgen, Löhne anzuheben, allgemein voranzukommen. Um den Klimawandel einzudämmen, müsste es aber ein grünes Wachstum sein. Das würde die durchschnittlichen Haushalte enorm belasten. Und um uns von den anfälligen globalen Versorgungsketten wieder etwas zu lösen und auch Chinas autoritären Vormarsch einzudämmen, müssen wir wieder mehr Waren in Europa produzieren. Das wird aber wesentlich teurer, weil unsere Lohnkosten viel höher sind. Außerdem wird aus der Friedensdividende eine Kriegsdividende für Spekulanten mit Rüstungsaktien.

Ein Puffer war bisher, dass ein durchschnittlicher Haushalt bislang nur etwa 13 Prozent seines Einkommens für Essen und Trinken ausgibt. Vor 45 Jahren war es noch doppelt so viel. Doch jetzt steigen auch die Lebensmittelpreise wieder, ganz zu schweigen von den Wohnkosten. Die Corona-Demos sind nur die Vorhut eines kommenden Protests. Die Frage ist, wann die große Rebellion kommt, nicht ob. Millionen Menschen werden sich in Europa wehren, weil es sich für sie einfach nicht mehr ausgeht.

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Deutschlands Vizekanzler Habeck spricht sich gegen einen Stopp von russischen Gaslieferungen aus, „weil wir damit den sozialen Frieden gefährden.“

Hans-Peter Martin

Und die Bestrebungen gegen den Klimawandel erhalten einen deutlichen Dämpfer?
Verhängnisvollerweise ja. Schädliche Braunkohlekraftwerke sollen wieder in Betrieb gehen und die Laufzeiten von Atomkraftwerken verlängert werden. Deutschlands grüner Vizekanzler Robert Habeck spricht sich bereits gegen einen Stopp von russischen Gaslieferungen aus, „weil wir damit den sozialen Frieden gefährden“. Auch hier gibt es eine Parallele: Nach dem Mauerfall 1989 geriet der Klimaschutz ins Hintertreffen, obwohl damals schon die Folgen allgemein bekannt waren.

Nun wurde „Fridays for Future“ zunächst durch die Corona-Krise ausgebremst, jetzt durch Putin. Putins Krieg richtet damit auch noch einen unabsehbaren Klimaschaden an. Unsere Gegenwart ist das Ergebnis von übertriebener Globalisierung, ungebremstem Energiekonsum, der Demütigung Russlands und der Tatsache, dass sich der Westen aus opportunistischen Gründen viel zu sehr China angebiedert hat. China wiederum zeigt, dass es Massenwohlstand auch ohne Demokratie und Freiheit geben kann.

Angesichts solcher Einschätzungen fällt es schwer, einen optimistischen Blick zu bewahren.
Man kann derzeit nur das Tempo aus der Talfahrt rausnehmen. Wichtig wäre, die schmutzigen Investitionen so vieler reicher Russen in Westeuropa endlich transparent zu machen und die Oligarchen, Putins Krakenarme, hart zu treffen, bitte auch am Arlberg. Und natürlich humanitäre Hilfe. Doch es wird wohl erst schlimmer werden, bevor es wieder besser wird.

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