Müller & Engler

„Zum Plattenladen zu gehen ist Lebensqualität“

Kultur
06.12.2022 06:01

Jan Müller und Rasmus Engler sind Musiker, beste Freunde und Romanautoren. Unlängst lasen sie im Wiener WUK aus ihrem autobiografisch angehauchten Roman „Vorglühen“ über Leben und Sein als junger Mensch im Hamburg der 90er. In der Doppelconference mit der „Krone“ erinnern sich die beiden nicht nur an alte Zeiten zurück, sondern blicken auch ideenreich nach vorne.

Hamburg in den 90er-Jahren. Land- trifft auf Stadtjugend. Der Punk auf das Establishment und junge Menschen beim Erwachsenwerden auf ein ganz neues Lebensgefühl. Für ihren teils autobiografischen, teils fiktiven Roman „Vorglühen“ haben sich die beiden Jugendfreunde Jan Müller und Rasmus Engler zusammengetan. Der eine ist Tocotronic-Bassist und Hans Dampf in allen deutschen Indie-Musikgassen, der andere Schlagzeuger von Herrenmagazin und schon länger mit Literatur firm. Logisch, dass die Musik der Kitt für alle Sorgen und Probleme ist - ohne dabei aber zu stark ins Nerdige abzurutschen.

„Krone“: Jan, Rasmus - in eurer Hauptprofession als Musiker seid ihr es prinzipiell gewohnt, auf der Bühne zu stehen und Krach zu machen. Jetzt wird ruhig gesessen und gelesen. Wie fühlt sich das für euch an?
Jan Müller:
 Die bisherigen Lesungen waren wunderbar. Vielleicht auch, weil es eine Abwechslung ist. Der Soundcheck ist auch schnell vorüber. (lacht) Ich habe ja noch Tocotronic und Rasmus auch diverse Bands.
Rasmus Engler: … wo ich auch meistens sitze, als Schlagzeuger. Aber das Lesen ist weniger anstrengend. 

Ihr seid nicht nur in den Bands Das Bierbeben und Dirty Dishes gemeinsam aktiv, sondern auch seit sehr vielen Jahren sehr gute Freunde. War es absehbar, dass sich diese Beziehung auch mal literarisch entfalten wird?
Engler:
In der Rückbetrachtung war es sogar logisch.
Müller: Die Band Bierbeben ist trotz des blödsinnigen Namens eine ernste Band mit ernsten Texten. Dirty Dishes macht blödsinnige und kabarettistische Texte, wie es der blödsinnige Name aussagt. Da haben wir schon eine gewisse Bandbreite, die wir damit abdecken. Dass wir uns mal auf Text fixiert und alles gemeinsam gemacht haben, war sehr schön. Ansonsten ist das Romanschreiben eine einsame Sache und keinem von uns beiden würde das so liegen. Wir praktizieren schon sehr lange das gemeinsame Denken.

Meist hat doch eine Person eine bestimmte Vision und will in eine Richtung. Die andere Person auch. Doch wie finden dann zwei Autoren bei einem Produkt zusammen?
Müller:
 Man muss viel reden. Wir haben genau überlegt, wo wir hinwollen und was das überhaupt werden soll. Wir hatten in den 90ern eine gemeinsame WG in der Hamburger Talstraße und von dieser Zeit gibt es viel Interessantes zu erzählen. Wir waren uns anfangs gar nicht sicher, ob das in Romanform geschehen sollte. Das gemeinsame Erspinnen und Fabulieren war aber sehr schön. Rasmus hat das die „Grübelsessions“ genannt. Wir haben Kapitel untereinander verteilt und natürlich wurden dann die Richtung und die Charakterzeichnung diskutiert. Irgendwann entwickelten die Figuren ein Eigenleben und da war auch bei uns beiden alles klar. Das gemeinsame Gefühl war da und von dort weg ging es sehr einfach weiter.

Schützt der Roman, also die Fiktion, nicht davor, zu viel von sich selbst preisgeben zu müssen?
Engler:
 (lacht) Autobiografisches Schreiben hat im Vergleich sehr wenige Freiheiten. Für einen selbst ist das auch überhaupt nicht interessant. So etwas beinhaltet immer sehr viel Eitelkeit. Allein schon die Vorstellung, dass irgendjemanden interessieren könnte, was man selbst mal gefühlt hat und das dann auch noch möglichst markig aufschreiben - nein danke. So etwas ist limitiert und eitel und das sind beides Dinge, vor denen wir uns schützen konnten. Wie viel Erlebtes in die Geschichte und Figuren eingeflossen ist, das kann man gar nicht mehr herausfiltern. Es ist sicher hilfreich, dass man ein halbes Leben hinter sich hatte, aber auch nicht entscheidend. Ich muss keinen Seelenstriptease machen.
Müller: Zusammengefasst kann man 
unbescheiden und eitel sagen: wir sind nicht eitel, aber bescheiden. (lacht)

Zwischen euch beiden liegen acht Lebensjahre. Das ist jetzt in der Gegenwart nicht viel. Wenn man jung ist, sind acht Jahre aber eine gewaltige Differenz. Habt ihr eure Jugend in Hamburg gemeinsam anders erlebt?
Müller:
 Es gibt von jedem von uns eine Abstraktionsleistung. Die von Rasmus ist das Jahr 1994, in dem der Roman spielt. Da war er noch gar nicht in Hamburg. Meine Abstraktionsleistung ist, dass ich nie auf dem Land gelebt habe, sondern in Hamburg aufgewachsen bin. Als ich Rasmus kennenlernte habe ich ihn immer als sehr jung wahrgenommen, aber wir hatten eine große Nähe zueinander, die bis heute fortbesteht. Das kann dann solch formale Differenzen überwinden.

Die Geschichte eines musikbegeisterten Außenseiters, der in die große Stadt kommt und dann in seiner Lebensrealität durchgewürfelt wird, damit kann glaube ich jeder etwas anfangen, der in den 90ern aufwuchs. Egal ob Hamburg, Wien oder Graz. Wolltet ihr die Geschichte für alle erlebbar machen?
Müller:
 Mein Idealbild wäre, dass „Vorglühen“ ein Roman ist, den jeder verstehen und nachvollziehen kann. Orientierungslosigkeit spielt eine große Rolle und die hat fast jeder irgendwann im Leben. Es gibt auch die Verwirrtheit in der Jugend, die klar herauskommt. Es hilft bestimmt, wenn man ein bisschen musikaffin ist, aber es wäre nicht erstrebenswert ein Buch zu schreiben, für das man ein gewisses Vorwissen braucht.
Engler: Wir mussten wenig darauf achten, dass wir bei Musikdiskussionen zu sehr ins Detail gehen. Darauf habe ich schon im Vorhinein den Fokus gelegt. Man muss nicht das Lexikon der überflüssigen Musik zurate ziehen.

Gerade das wäre doch eine große Gefahr gewesen: das zwei so enorme Musiknerds wie ihr sich in einem szenischen Tunnel verlaufen.
Engler:
Das ist schon richtig, aber man muss sich ein Buch so vorstellen, als würde man mit einem Fremden reden. 
Müller: Wir hatten in unserer Freundschaft so viele sinnlose Musiknerd-Streits. Wir haben wirklich ernsthaft darüber diskutiert, ob eine Band gut oder verachtenswert ist und darauf habe ich überhaupt keine Lust mehr. Heute dominiert der Hass schon so stark in der Welt. Bei jedem Thema ist sofort eine Totalität da und andere Meinungen werden sofort verächtlich gemacht. So eine Haltung wollten wir vom Buch fernhalten.

Die Reise in „Vorglühen“ ist eine nostalgische. Ist die Nostalgie auch für euch manchmal der letzte Ausweg aus der hasserfüllten Gegenwart, in der wir uns rundum befinden?
Müller:
Ein bisschen stimmt das sicher. Die 90er-Jahre waren schon eine Zeit, wo man unangenehmen Sachen aus dem Weg gehen konnte, es ist aber auch wichtig, dass das Unangenehme im Buch auftaucht. Es spielt alles hinter einer düsteren Wand. Der Mauerfall ist im Buch erst fünf Jahre her und da gibt es einen Punk, der mit dem Moped aus dem Osten kam. Es gibt ein Paketzustellungszentrum, wo eine hasserfüllte Frau in der Kantine die Wahl der rechtsextremen Partei „Die Republikaner“ propagiert. Daran erinnere mich noch gut und vieles, was wir heute haben, war rund um 1989 und 1990 schon angelegt. Die Pogrome in Rostock und die Mordanschläge in Solingen. Das ist schon auch in der Welt von Hauptcharakter Albert und seinen Freunden drinnen.

Ihr verklärt aber die Vergangenheit nicht. Die 90er waren sicher angenehmer, aber es war auch nicht alles gut.
Müller:
 Das wäre auch nicht die Wahrheit. 
Engler: Auch wenn ich die Jahre Hamburgs im Buch nicht so erlebt habe, war ich in dem Alter und hatte dieselben Sorgen und Nöte. So gesehen bin ich auch sehr froh, dass das jetzt vorbei ist. Da gibt’s nicht viel zu verklären. Am liebsten haben wir uns daran erinnert, dass das Tempo ein bisschen gemütlicher war. Es war nicht immer alles so stressig.
Müller: Es gab auch noch nicht die dauernde Selbstinszenierung, die die heutigen technischen Gegebenheiten mit sich bringen. Das Telefon, Telefonzellen und die Erreichbarkeit spielen eine wichtige Rolle im Roman. Da war früher alles anders und man war nicht so präsent.
Ständige Postings und immerwährende Inszenierung: Dieser Dauerstress ist nicht gesund. 

Junge Menschen von heute können sich doch gar nicht in diese Zeit versetzen. Das machen schon die Smartphones absolut unmöglich. Für die heutige Jugend ist eure Nostalgie fast schon ein Ausflug in die Fantastik …
Müller:
 Das ist ein interessanter Ansatz. Wenn Rasmus mit Anfang 40 und ich mit Anfang 50 jetzt so tun würden, als hätten wir eine Ahnung vom Leben der heutigen jungen Menschen, hätten wir schon verloren. Ich will das auch gar nicht erkunden, sondern mich mit den Dingen beschäftigen, mit denen ich auskomme. Ich hoffe aber schon, dass der Roman auch junge Menschen anspricht, selbst wenn sie manches „strange“ finden. Ich will mich keinesfalls mit dem Werther von Goethe vergleichen, aber Themen wie der Sturm und Drang der Jugend bleiben im Kern ja gleich. Das Empfinden dazu ist wahrscheinlich auch bei der heutigen Jugend ähnlich wie bei uns.

Hattet ihr beim Schreiben und der Rückschau A-Ha-Momente? Die euch aus heutiger Sicht vielleicht peinlich oder unangenehm sind?
Müller:
Lustig war bei unseren Unterhaltungen, an was der jeweils andere sich erinnert oder was er vergessen hat. Da haben wir uns ziemlich gut ergänzt, das war eine gemeinsame Zeitreise. Normal redet man ja nicht dauernd über das Gestern. Da bin ich auf erstaunliche, teilweise elementare Sachen gestoßen, die mir Rasmus berichtet hat. Man war damals ja auch nicht immer nüchtern. (lacht) 
Engler: Ich habe aber kein einziges Mal auf irgendwelche Ereignisse geschaut und mir dabei erhofft, dass ich mich noch einmal neu entscheiden könnte. Wenn man zu viel über die Vergangenheit nachdenkt, kann das virulent werden. Es ist schön, dass alles passiert ist, aber auch schön, dass es vorbei ist. Ich bin mit der ganzen Geschichte absolut okay.

Hat die Zusammenarbeit an „Vorglühen“ euch auch als Freunde und in der Zwischenmenschlichkeit noch einmal näher zusammengebracht?
Müller:
 Auf jeden Fall und das war auch eine Idee der Sache. Rasmus wohnt in Hamburg und ich seit mehr als zehn Jahren in Berlin. Es war auch eine Idee, dass man sich durch das Projekt wieder näherkommt und das hat gut geklappt.

Wichtige Begriffe des Buches sind Adoleszenz, Rivalitäten, Punk, Auftrieb und vor allem Musik. Sie ist wie die Klammer der gesamten Handlung. Lässt ihr sie als universale Sprache für das Miteinander und gegen Ausgrenzung im Roman aufleben?
Müller:
 Würde man das so sehen, fände ich das schön. Der Roman ist auch eine Liebeserklärung an die Musik. Die beiden Hauptprotagonisten lernen sich über einen Button einer Band kennen.
Engler: Das verbindende Element der Musik sollen auch diejenigen verstehen, die sich nicht so leidenschaftlich damit befassen, die selten auf Konzerte gehen und vielleicht noch nie in einer Band gespielt haben. Wenn diese Leute das Buch immer noch interessant finden und es nicht so lesen wie Physiker, die untereinander Formeln austauschen, dann haben wir viel erreicht. Wenn die Sprache der Musik durch das Buch erklärbar gemacht werden könnte, wäre das schön.
Müller: Albert ist ein phlegmatischer Typ und die Musik kommt in seiner persönlichen großen Krise zu ihm. Sie rettet ihn und so etwas kann die Musik ja wirklich leisten.

Lernen sich heute noch Menschen durch gemeinsame Buttons oder Patches kennen, oder hat die Digitalisierung diese Art des Zueinanderfindens umgebracht?
Müller:
Musik findet anders statt, aber die Begeisterung für sie ist meiner Ansicht nach ungebrochen. Wenn ich mich an die Plattenläden und deren Spezialistentum zurückerinnere, finde ich diese Änderung gar nicht so schlecht. Das ganze Thema ist durch die Digitalisierung etwas ent-nerdet und hoffentlich nicht mehr ganz so ein Jungs-Ding, wie es einmal war. Die 30-sekündigen Musikhäppchen auf diversen Social-Media-Plattformen und die zunehmende ADHS-isierung in der Musik, die haben andere Ursachen. Das liegt eher an der allgemeinen Geschwindigkeit in dieser Welt.

Hattet ihr in eurer Jugend Angst vor diversen Plattenladen-Sheriffs, wenn sie ganz streng das Nerdwissen der Kunden abprüften?
Müller:
Ich hatte als junger Mensch sehr viel Respekt vor ihnen. Im Laufe der Zeit habe ich dann aber auch ein paar Nette kennengelernt. Ich erinnere mich etwa an „Unterm Durchschnitt“ von Uli Rehberg, der die Leute beschimpft hat - aber auf eine sehr originelle Art und Weise. Ein echtes Original. Mit der Krise der physischen Tonträger sind die Plattenhändler auch viel aufmerksamer geworden. Der Service wird mittlerweile großgeschrieben.
Engler: Da wo ich herkomme, da gab es keinen Plattenladen. Ich bin tatsächlich erstmals in Hamburg in Plattenläden gewesen und habe mich anfangs immer gewundert, wie ungern die Plattenhändler gesprochen haben. 
Müller: „Unterm Durchschnitt“ hatte viel Experimentalmusik. Bands wie Laibach oder SPK hatten durch die Firma Walter Ulbricht Schallfolien ihren Ursprung. In der Seilerstraße gab es „Cool & Crazy Records“ vom Amerikaner Tim Warren. Der hatte nur US-Importplatten, die man damals nirgends bekam. Er war wortkarg, immer mit Sonnenbrille, aber trotzdem sehr freundlich. Es gab in Hamburg wirklich viele tolle Plattenläden.
Engler: Ein paar haben ja überlebt und da geht man dann gerne wieder hin.
Wenn man nur ein paar Minuten zu Fuß zum Plattenladen braucht, dann ist das Lebensqualität.
Müller: Es gibt auch keinen besseren Algorithmus, als in einer Plattenkiste zu kramen. 

Hat euch das Schreiben an „Vorglühen“ Lust auf mehr gemacht? Wird es einen Nachfolger geben?
Müller:
 Die Figuren sind ja gerade erst losgelaufen. Mal sehen, was denen als nächstes so passiert. 
Engler: Wir haben uns da schon ein paar Gedanken gemacht, sagen wir es so. 

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