Prozess um Baby-Tod

Freispruch weckt Volkszorn der Amerikaner

Ausland
07.07.2011 15:06
Die Aufregung ist so groß, als ob das Gericht Osama bin Laden freigesprochen hätte. Doch es ist Casey Anthony, die mit den ihr vorgeworfenen Taten keineswegs prahlte, sondern sie abstreitet. Die 25-jährige Frau aus Florida wurde trotzdem zum Inbegriff der "Baby-Killerin". Sie soll 2008 den Mord an ihrer zweijährigen Tochter eiskalt geplant und durchgeführt haben. Der Staatsanwalt forderte - unter dem Beifall der Öffentlichkeit - die Todesstrafe. Eine 12-köpfige Jury sprach Anthony nun aber frei und trat damit einen beispiellosen Sturm der Entrüstung los.

US-Kommentatoren aus allen Lagern, Medien-Promis, Starlets und Talkshow-Gastgeber empören sich seit Dienstag auf allen Kanälen über den Freispruch. Tausende Artikel, Fernsehbeiträge, Facebook-Postings und Tweets prangern einen Justizskandal und ein Fehlurteil an. Fernsehreporter haben sogar die Geschworenen ausgeforscht und befragt, warum sie Casey Anthony freisprachen. Einige Jury-Mitglieder gaben dabei zu Protokoll, sie wären fest davon überzeugt, dass Anthony ihre Tochter ermordet hat - nur seien die im Verfahren vorgelegten Beweise aus juristischer Sicht zu wenig gewesen. "Wir weinten bei den Beratungen; alle, nicht nur die Frauen. Es machte uns fertig, dass wir sie freisprechen mussten", sagte eine Geschworene dem US-Sender ABC. 

Kurzum: Die amerikanische Öffentlichkeit scheint felsenfest davon überzeugt, dass man Casey Anthony die nächsten 30 Jahre wegsperren oder ihr gleich eine Giftspritze in den Arm jagen hätte sollen, anstatt sie - wie es bald der Fall sein wird - freizulassen. Gegenstimmen gibt praktisch nicht bzw. ist die Stimmung derart aufgeheizt, dass sich niemand die Finger verbrennen möchte.

Eine Frau, die ihr Kind tötet, um auf Partys zu gehen?
Für die Staatsanwaltschaft war der Fall natürlich von Anfang an klar. Casey Anthony hat ihre zweijährige Tochter Caylee kaltblütig ermordet und die Leiche im Wald verscharrt. Punkt. Um die Tat zu belegen, hatten die Ermittler aber nach fast drei Jahren noch immer keine handfesten Beweise, Tatzeugen oder gar ein Geständnis. 

Auf ein Netz an Indizien, die in erster Linie eine einschlägige Charakterisierung Casey Anthonys nach Vorstellung der Anklage ermöglichten, sowie bis dahin weitgehend unerprobte Methoden der Gerichtsmedizin baute die Staatsanwaltschaft: Anthony, damals 22, sei die Rolle als Mutter leid gewesen. Die kleine Tochter habe nicht in ihren Lebenswandel mit ausschweifenden Partys und wechselnden Männerbekanntschaften gepasst - weswegen die junge Frau den Plan geschmiedet habe, das Kind zu töten.

Erst nach 30 Tagen als vermisst gemeldet
Und das geschah nach Darstellung der Staatsanwaltschaft: Mitte Juni 2008 verließ Casey Anthony mit Caylee das Elternhaus und kehrte rund einen Monat nicht zurück. Wann auch immer ihre Mutter nach dem Mädchen fragte, hieß es, Caylee sei beim Babysitter. Mitte Juli erhielten Caseys Eltern einen eingeschriebenen Brief, dass das Auto ihrer Tochter abgeschleppt wurde. Caseys Vater George Anthony holte den Wagen, aus dessen Kofferaum seiner Aussage nach Verwesungsgeruch drang. Am selben Tag wurde Caylee als vermisst gemeldet. Den Anruf bei der Polizei tätigte Caseys Mutter Cindy. Im Verlauf des Telefonats erklärte dann ihre Tochter, dass das zweijährige Mädchen bereits seit 30 Tagen vermisst sei. 

Im Verlauf der Ermittlungen verstrickte sich die junge Mutter mehrmals in Widersprüche. Sie erklärte der Polizei, ihre Tochter sei von der Nanny entführt worden. Die Ermittler überprüften die Frau, die zwar tatsächlich ein Kindermädchen ist, jedoch nie mit der Familie Anthony zu tun hatte. Auch Caseys Angaben über ihren Job bei einem Filmstudio stellten sich als Lüge heraus. Nicht einmal ihre Eltern wussten, dass der 22-Jährigen schon vor zwei Jahren gekündigt worden war. Anthony wurde zunächst wegen Verdacht auf Kindesvernachlässigung und Behinderung polizeilicher Ermittlungen in Untersuchungshaft genommen. Im August kam Anthony mit der Hilfe eines Kautionsbüros auf freien Fuß, wurde jedoch wenige Tage später wegen Scheckfälschung und Gelddiebstahls erneut verhaftet.

Mordanklage ohne Leiche und mit Sci-Fi-Gutachten
Danach war es eine Zeit lang ruhig um den Fall geworden, die Ermittlungen in einer Sackgasse angelangt. Anthony wurde bis Oktober mehrmals aus der U-Haft entlassen und meist kurz darauf wegen verschiedener Gelddelikte wieder verhaftet. Im Oktober waren die Ermittler anhand der vorliegenden Aussagen und einiger forensischer Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass Caylee Anthony einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist und nicht mehr lebt. Gegen Casey Anthony wurde Anklage wegen Mordes, Kindesmisshandlung und Falschaussage erhoben. 

Die Anklage stützte sich vor allem auf zwei gerichtsmedizinische Gutachten, deren Methodik zu dieser Zeit eher an Science-Fiction oder TV-Krimis erinnert: Eine Gruppe Chemiker ermittelte anhand einer Analyse der Luft im Kofferraum von Casey Anthonys Wagen, dass in diesem ein Verwesungsprozess stattgefunden hat. Zudem wurden Spuren von Chlorofom nachgewiesen. Bei einem Haar der Zweijährigen, das ebenfalls im Auto gefunden wurde, wandten Sachverständige eine neue Form von DNA-Analyse an und kamen zum Ergebnis, das es von der bereits toten Caylee stamme. 

Fotos, Suchbegriffe und eine Leiche ohne Todesursache
Weiters präsentierte die Staatsanwaltschaft der "Grand Jury", die über die Anklage zu entscheiden hatte, einen Tagebucheintrag Caseys in den Tagen nach dem Verschwinden der Zweijährigen. Passagen wie "Ich weiß, ich habe das Richtige getan" und "Der Zweck heiligt die Mittel" suggerieren, Anthony habe den Eintrag nach dem Tod des Mädchens geschrieben. Die Auswertung von Anthonys Computer ergab, dass damit u.a. die Begriffe "Chlorophorm", "Genickbruch" und "Tod" gegoogelt wurden. Auch gab es Fotos, die Casey Anthony in den 30 Tagen nach Caylees Verschwinden beim Feiern zeigten. Casey Anthony plädierte auf "nicht schuldig". 

Im Dezember 2008 wurden in einem Waldstück nahe Anthonys Elternhaus die in Plastik verpackten und verscharrten sterblichen Überreste von Caylee entdeckt. Die Polizei suchte die Gegend nach einem Hinweis eines Gemeindemitarbeiters ab. Der Mann hatte die Polizei schon im August auf die seiner Meinung nach verdächtig aussehende Stelle im Wald hingewiesen, es wurde jedoch nicht einmal Nachschau gehalten. Die Gerichtsmedizin konnte den stark verwesten Leichenteile zwar eindeutig Caylees DNA zuordnen, am Kopf der Leiche wurden auch Überreste von Klebeband sichergestellt, welches auch bei den Anthonys benützt wird - eine Todesursache konnte aber nicht ermittelt werden. Für die Staatsanwaltschaft stand dennoch fest: Casey Anthony betäubte ihre Tochter mit Chlorophorm, erstickte sie mit Klebeband und entsorgte die Leiche in einem Plastiksack im Wald.

Staatsanwalt forderte die Todesstrafe
Casey Anthony blieb in Untersuchungshaft, im April 2009 beantragte die Staatsanwaltschaft die Todesstrafe, doch es dauerte bis Ende Mai 2011, ehe der Prozess in Orlando, Florida, begann. Die Geschworenen wurden bewusst aus anderen Teilen Floridas herbeigerufen. Während des Verfahrens wurden sie abgesondert, d.h. von der Außenwelt abgeschnitten, um Beeinflussung weitestgehend zu vermeiden. Bis zum Prozess war der Fall in der US-Öffentlichkeit bereits überdurchschnittlich oft in den Medien erwähnt worden, vor Beginn der Verhandlung brach jedoch eine Aufmerksamkeitswelle los, die man bis dahin nur vom Prozess gegen O.J. Simpson kannte. In US-Medien wurde Casey Anthony wie die sprichwörtliche Sau durchs Dorf getrieben, vor allem aber auf Social-Networking-Plattformen wie Facebook und Twitter, was den Bekanntheitsgrad des Falles beteutend erhöhte. Es gab Demonstrationen vor dem Haus der Anthonys, Sachbeschädigungen und Beschmierungen mit Parolen wie "Baby-Killer". 

Vor Gericht legten Anthonys Verteidiger - die Anwälte wechselten im Laufe des Prozesses mehrmals - indes eine vollkommen neue Version der Ereignisse dar. Sie behaupteten, Caylee sei im Swimmingpool des Elternhauses unter Aufsicht der Großeltern ertrunken und George Anthony, Caseys Vater, habe im Schock die Entscheidung getroffen, die Leiche der Zweijährigen verschwinden und den Unfall wie ein Verbrechen aussehen zu lassen. 

Dass Casey Anthony dies nicht sofort der Polizei erzählte, erklärten die Anwälte damit, dass die junge Frau seit ihrer Kindheit von ihrem Vater sexuell missbrauch wurde und psychische Probleme habe. Auch ihr Bruder Lee habeaftstest mit dem Bruder gemacht, der allerdings negativ ausging. Beweise für das angebliche Martyrium der Frau konnte die Verteidigung jedoch nicht vorlegen. 

Die Staatsanwaltschaft konnte ihre Beweisstrecke beim Verfahren aber ebenfalls nicht erweitern und untermauerte die von der Verteidigung vorgebrachte psychische Beeinträchtigung sogar noch, als sie Anthonys "Leben voller Lügen" unter anderem mit einer Vielzahl an erfundenen Freunden zu belegen versuchte.

Im Zweifel für den Angeklagten
Am 4. Juli zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück, 17 Stunden später wurde das Urteil verkündet: "Nicht schuldig" aus Mangel an Beweisen des Mordes und des Kindesmissbrauchs. "Schuldig" der viermaligen Falschaussage gegenüber der Polizei. Das Strafmaß für die Falschaussagen beträgt jeweils ein Jahr, also maximal vier Jahre Haft. Da Anthony schon fast drei Jahre in Untersuchungshaft saß, wird sie wohl selbst bei Verhängung der Höchststrafe umgehend aus der Haft entlassen werden. 

Ein Sturm der Entrüstung brandete nach dem Freispruch durch sämtliche Medienkanäle in den Vereinigten Staaten. Von einem Justizskandal und einem Fehlurteil ist die Rede, von einer Ungerechtigkeit und Fehlern im System, die es einem "Teufel" möglich machten, straffrei auszugehen. Bemerkenswert ist vor allem die Resonanz im World Wide Web. In Tausenden "Tweets" empören sich Bürger nach wie vor über den Freispruch. Prominente wie Kim Kardashian, Roseanne Barr und Sharon Osbourne stimmten in die kollektive Online-Entrüstung mit ein. Der Talkshowmoderator Jay Leno erlaubte sich sogar einen Scherz: "Es sieht so aus, als wären die Geschworenen von O.J. Simpson nach Florida gezogen." Auf der 17.000 Mitglieder umfassenden größten Anti-Casey-Facebook-Gruppe "I hate Casey Anthony" werden Morddrohungen gegen die 25-Jährige, die das Urteil mit Tränen in den Augen und später einem erleichterten Gesichtsausdruck aufnahm, ausgestoßen.

Wie die Staatsanwaltschaft weiter verfahren wird, ist unklar. Auch was passiert, wenn Casey Anthony in den nächsten Tagen auf freien Fuß gesetzt wird, steht noch nicht fest. Sie wird polizeilichen Schutz benötigen und definitiv nicht in ihr Elternhaus zurückkehren können, zumal das aktuelle Verhältnis der jungen Frau zu ihren Eltern, die sie im Verfahren schwer belastete, unklar ist. 

Schüren Kameras und Live-Berichte Vorverurteilungen?
Für Analysen, warum der Fall zu einem derartigen Massenereignis wurde und warum die sonst so auf die Unabhängigkeit ihrer Gerichte pochende US-Öffentlichkeit im Fall der 25-Jährigen den entgegengesetzten Weg geht, ist es offenbar noch zu früh. Noch überwiegt der blinde Zorn. Brent Idarola, ein Medienanalyst, stellte in der "New York Times" als erster Kommentator aber das System infrage: "Man sollte sich anhand dieses Falles überlegen, ob Kameras und Live-Übertragungen in unseren Gerichten wirklich zum Vorteil der Rechtssprechung sind." Anthony wurde in TV-Berichten nicht selten mit einem Lächeln gezeigt, das ihr Gerichtsreportern zufolge aber eher selten entglitt. Der Anwalt Casey Anthonys, Jose Baez, forderte nach dem Freispruch die Öffentlichkeit zur Zurückhaltung auf: "Wir sollten daraus etwas lernen. Wir dürfen keinen Menschen verurteilen, ehe er nicht vor Gericht gestanden ist."

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