Album & Wien-Konzert

Placebo: „Werde aus den Menschen nicht schlau“

Wien
23.03.2022 18:00

Das letzte Studioalbum liegt zwar schon neun Jahre zurück, aber die britischen Alternative-Heroen von Placebo waren in der Zwischenzeit nicht untätig. Die Jugendfreunde Brian Molko und Stefan Olsdal sind mittlerweile wieder zum Duo geschrumpft und sorgen sich auf dem siebenten Werk „Never Let Me Go“ um die Welt. Klimakrise, Verschwörungstheoretiker und die Tücken der Digitalisierung haben die beiden Londoner so beschäftigt, dass man beim Konzert am 2. November in der Wiener Stadthalle auch mit einem speziellen visuellen Konzept rechnen kann. Bis dahin kann man sich am besten und musikalisch buntesten Placebo-Album seit Jahren erfreuen. Olsdal klärt uns im Interview über die Hintergründe auf.

„Krone“: Stefan, selbst wenn wir die Pandemie mitrechnen, sind die neun Jahre zwischen eurem letzten Studioalbum und dem neuen „Never Let Me Go“ eine verdammt lange Zeit. War überhaupt klar, dass es noch ein Album von Placebo geben würde?
Stefan Olsdal:
Das Leben ist doch eine Abfolge von glücklichen Zufällen. Neun Jahre sind nicht wenig, da hast du recht, aber wir waren nicht untätig. Für das letzte Album „Loud Like Love“ waren wir einige Jahre lang auf Tour, dann kam noch ein „Unplugged“-Album, eine Tour zum 20-jährigen Bandjubiläum und eine Karriere-Retrospektive. Das hat uns einige Jahre in Beschlag genommen und dann kam eine wohlverdiente Pause. Vor etwa drei Jahren haben Brian und ich über das neue Album geredet und es ging langsam damit los.

Nach dem Split mit Drummer Steve Forrest ist dieses Album das erste, das ihr definitiv nur zu zweit konzipiert habt. War das anfangs eine ungewohnte Situation?
Die Band startete vor knapp 30 Jahren als Duo in einer kleinen Wohnung im Süden von London. Es war also eine Rückkehr zu den Ursprüngen. In gewisser Weise hat uns das neue Möglichkeiten und Wege eröffnet, die wir vorher nicht gesehen haben. Wenn sich ein Problem stellt, dann redet man gemeinsam darüber und lotet Lösungen und Möglichkeiten aus. Wir hatten ganz am Anfang auch programmierte Drums und keinen Menschen dahinter. Durch all die technischen Möglichkeiten, die sich uns heute bieten, sahen wir dahingehend auch kein Problem. Es war gut für uns, die Dinge einmal anders anzugehen. Wir versuchen jedes Album etwas anders zu gestalten. Das Gefühl, jetzt etwas zu zweit komponiert zu haben, fühlt sich wie ein Neustart an.

Fällt es euch nach knapp 30 Jahren und sieben Alben zunehmend schwer, euch selbst zu überraschen und herauszufordern?
Es wird auf jeden Fall herausfordernder, das stimmt schon. Das war auch der Grund, warum Brian dieses Mal einen anderen Ansatz wählte und das Pferd von hinten aufzäumte. Das haben wir noch nie gemacht. Das Cover-Artwork, Album- und Songtitel entstanden normal immer als allerletztes, aber dieses Mal standen diese Dinge vor der Musik und vor den Texten. Wir wollten uns damit selbst austricksen und pushen. Je mehr du dich aus deiner Komfortzone bewegst, umso weniger wiederholst du dich. Es ist uns oft passiert, dass wir eine große Melodie hatten, die dann aber viel zu sehr nach Album fünf klang. Aus dieser Gemütlichkeit mussten und wollten wir uns rausbewegen.

Placebo war immer eine Band mit viel Glamour und Glanz, davon ist auf „Never Let Me Go“ nicht mehr allzu viel übrig. Ein bewusster und notwendiger Schritt für die Band?
Ich habe diesen Begriff schon lange nicht mehr gehört und ich würde Placebo nicht mit Glamour verbinden, aber wir wurden immer ins Rampenlicht gestellt. Mit unseren Singles und unserer Bildästhtetik wollen wir zeigen, dass man nicht sofort genau das sieht, was man vermeintlich glaubt zu sehen. Das ist ein Zeichen der Zeit.

Ihr seid beide sehr schüchterne Charaktere. Kommt euch das Konzept, euch und die Musik durch eine Art Filter zu repräsentieren, zugute?
In der heutigen Welt gibt es ein Überangebot an Enthüllung. Alles dringt ins Netz. Einerseits alte Fotos aus einer Zeit, wo es noch gar kein Social Media gab, andererseits wird jeder Schnipsel aus der Gegenwart von uns allen irgendwo hochgeladen. Wir fotografieren und filmen uns und alles um uns. Permanent. Wir haben uns als Band dazu entschlossen, mehr Kontrolle über unsere eigene Erzählung zu nehmen. Wir präsentieren uns wesentlich selektiver als es früher der Fall war.

Bist du persönlich froh darüber, dass es noch keine Social-Media-Kanäle gab, als Placebo in den 90ern richtig groß wurden?
In gewisser Weise schon. Ich kann das aber schwer beurteilen, denn heute sind die Menschen es gewöhnt, dass alles sofort im Netz landet und dass sich jeder für die ganze Welt ausstellt. Warum verwende ich den roten Filter und nicht den grünen? Das beschäftigt die Menschen heute. Wir hatten früher die Gelegenheit ruhiger und gemütlicher zu wachsen, ohne dauernd beobachtet und kritisiert zu werden. Ich war immer schüchtern und soziale Situationen empfinde ich allgemein als sehr seltsam. Ich habe immer versucht, mich nicht nach außen zu öffnen. Insofern waren die Zeiten früher für uns als Musiker sicher besser.

Fällt dir das Leben in dieser Enthüllungsgesellschaft schwer, oder hast du Wege gefunden, damit umzugehen?
Ich bin wirklich sehr schüchtern, weshalb ich auf der Bühne auch nur herumstehe und mich voll um die Musik kümmere. Nach den Lockdowns fiel es mir schwer, die Selbstsicherheit zu kriegen, wieder rauszugehen und sozial zu interagieren. Ich bin aber auch jemand, der alles überdenkt und sich viel zu sehr um Dinge sorgt. Der Schauspieler John Cameron Mitchell nannte sich einen „self proclaimed disasturbator“. Er malt sich furchtbare Szenarien aus, ohne dass sie überhaupt wirklich so passieren dann. Er „katastrophiert“ sozusagen die Realität und so ähnlich ticke ich auch. Selbst dann, wenn alles wie auf Schienen läuft. Die Lockdowns haben mir und Brian mehr Zeit zum Nachdenken und Überlegen gegeben. Es ist nach den Lockdowns schwieriger, sich wieder auf das Auge der Öffentlichkeit einzustellen, als es früher einmal der Fall war.

Die letzten zwei Jahre sind an niemandem spurlos vorübergegangen. Wie hast du diese Zeit verbracht und dich selbst reflektiert?
Vielleicht ist die Pandemie mitverantwortlich dafür, dass unser Album so klingt, wie es klingt. Jedes Album ist eine Reflektion der Welt, in der wir uns gerade bewegen. Wir haben so konzentriert zu zweit in meinem Studio in East London gearbeitet, wie schon ewig nicht mehr. Wir waren viel daheim, so wie früher. Wir hatten viele Lockdown-bedingte Pausen und konnten jeden einzelnen Song und jede Idee, genauer überlegen und in Relation setzen. Wir haben die wahre Identität jeder Nummer genau rausgefiltert. Das Album hat sich einfach gut angefühlt, weil wir auch die nötige Zeit, um es so zu gestalten, wie es für uns perfekt gepasst hat.

Es geht inhaltlich stark um zeitgemäße Themen wie die Klimakrise, den Vormarsch der Technologie und all die Fehler, die Menschen seit dem Beginn des industriellen Zeitalters machen. Alles in allem ist „Never Let Me Go“ ein schweres, ziemlich depressives Werk…
Wie ich schon sagte, ist jedes Album eine Aufnahme der gegenwärtigen Lage. Das Ende der Welt wird schon seit Jahrhunderten prophezeit, aber wir kommen diesem Schicksal immer näher und wir Menschen schaffen es nicht, uns das Ende einer Welt ohne uns im Mittelpunkt vorzustellen. Wir stellen uns immer ins Zentrum des Seins, was aber nicht unbedingt richtig ist. Wir sind nicht die erste Band, die sich darüber Gedanken macht. Wir wollen dem Hörer nicht diktieren, was er denken soll, aber es gibt immer eine kräftige Portion Hoffnung, die als Botschaft am Ende mitschwingt.

Ein interessanter Song ist „Try Better Next Time“, eine schöne Botschaft an die menschliche Rasse. Wird der Mensch überhaupt noch eine Chance kriegen, die Dinge auf diesem Planeten besser zu gestalten?
Ich weiß nicht, ob es überhaupt eine Lösung gibt. Das kommt auch auf meine Tagesverfassung an. Manchmal wache ich auf und verzweifle an den Menschen und dem Leben an sich. Menschen, Tiere und Pflanzen leben in Koexistenz auf diesem Planeten und versuchen primär, so lang wie möglich zu überleben. Das ist die Basis für alles. Um es philosophisch zu sagen: es gibt keinen wirklichen Grund für das Leben. Wir wissen nicht, was danach kommt und wir wissen nicht, warum wir überhaupt hier sind. Es geht aber darum, mehr daraus zu machen, als nur zu überleben. Wir entwickeln uns alle seit Tausenden von Jahren und lernen trotzdem in vielen Belangen nicht dazu.

Die Menschen haben einen wirklich mächtigen Überlebensinstinkt. Bevor du verhungerst oder erfrierst, wirst du alles daran setzen, um es zu verhindern. Der Wille eines Menschen ist gewaltig. Die meiste Zeit sind wir aber narzisstisch und egoistisch. Gleichzeitig können wir clever und mitfühlend sein. Ich werde aus unserer Rasse nicht schlau und denke viel darüber nach. Wenn du dir nun aber die Nachrichten mit dem Krieg in der Ukraine ansiehst, dann verzweifelst du sofort wieder. 

Klimakrise, Pandemie, Krieg in der Ukraine, rechtsradikale Populisten - es ist nicht einfach, in dieser Welt noch das Positive herauszufiltern…
In den letzten Jahren haben wir aus allen Richtungen Ohrfeigen bekommen. So fühlt es sich zumindest an. Wenn du das Gefühl hast, dass du an der Realität komplett verzweifelst, dann musst du dir nur vergegenwärtigen, dass es die vielen Generationen vor uns noch viel schlimmer hatten. Das ist einfach Fakt und rückt gewisse Dinge wieder in ein anderes Licht. Unser Bestes muss manchmal gut genug sein. Wir können nicht die Last der Welt schultern, sondern müssen manchmal einfach für uns selbst da sein. Die Medien und Nachrichten ausschalten, um uns psychisch zu reinigen und zu schützen. Wir stecken in harten Zeiten, aber wir haben es in unserem Instinkt und in unserer DNA, dass wir immer einen Fuß vor den anderen setzen und nicht aufgeben. Wo sollen wir auch hin, als weiter nach vorne?

„Chemtrails“ ist ein Song, der sich stark mit Verschwörungstheoretikern auseinandersetzt. Ängstigt es dich manchmal, dass man der Wissenschaft in der Öffentlichkeit zunehmend weniger Vertrauen schenkt?
Durchaus, aber es gibt auch die andere Seite. Genderpolitik, Sexualität oder auch die Klimakrise sind sichtbarer denn je zuvor und es gibt rundum rege Diskussionen zu diesen Themen. Ich habe auch keine Antworten auf diese Probleme, aber ich bin optimistisch, dass sich die Dinge zum Besseren wenden werden.

Themen wie Gleichberechtigung und Genderpolitik habt ihr in den 90er-Jahren schon aufs Parkett gebracht, als rundum davon kaum noch die Rede war. Wart ihr eurer Zeit dahingehend immer weit voraus?
Wir schreiben über Dinge, die uns selbst betreffen und interessieren. Als Songwriter drücken wir uns und unsere Persönlichkeiten aus. Wir machen das visuell, als auch auditiv. Das haben wir damals gemacht und das machen wir heute noch. Wenn irgendetwas von all dem, was wir in unserer Karriere gemacht haben, dazu führt, dass es Diskussionen eröffnet oder eine erhöhte Aufmerksamkeit einbringt, ist das nur positiv. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns als Pioniere oder Botschafter sehen. Wir sind einfach so ehrlich wie möglich zu uns selbst.

Dazu gehört trotzdem ein gewisser Mut, denn über die verschiedenen Facetten der Sexualität zu singen mag heute längst selbstverständlich sein. Damals war es das auf keinen Fall.
Wir haben nicht darüber nachgedacht, sondern es einfach gemacht. Die Musikwelt war damals eine andere. Über Sexualität und Geschlechtsidentität gibt es heute ganz normale Diskussionen. Es gibt mehr Sichtbarkeit für dieses Thema, was sehr gut und wichtig ist. Im Endeffekt haben wir aber nur das gemacht, was wie für richtig hielten. Vielleicht war es dadurch schwieriger, irgendwo reinzupassen, aber so ist das nun einmal. Wir beide haben schon als Teenager und junge Erwachsene nirgends wirklich dazugepasst. Als wir Mitte der 90er-Jahre in London loslegten gab es kaum Bands, an denen wir Gemeinsamkeiten mit uns erkannten. Die goldene Ära des Brit-Pop war nicht so ganz unsere Szene. Wir mussten uns also unsere eigene Welt bauen und damit haben wir nie aufgehört. Das war die einzige Möglichkeit, um uns mit unserer Musik auszudrücken.

Wie fasst der Titel „Never Let Me Go“ eigentlich die Themenpalette auf dem Album zusammen?
Es ist ein sehr vielseitiger Titel. (lacht) Wir wollen niemandem sagen, was er zu denken oder zu fühlen hat. Lies heraus, was für dich wichtig ist. Schau dir das Artwork und die Songtitel an und erkenne selbst, was für dich passt. Du kannst dir den Albumtitel auch im Spiegel vorsagen oder mit deinem kleinen Kind darüber reden. Es wird wahrscheinlich überall eine andere Bedeutung mitschwingen. Für mich funktioniert der Titel auf extrem vielen Ebenen.

In Großbritannien ist es kaum mehr möglich, irgendwo Privatsphäre zu haben. Überall sind Kameras, überall wird man aufgezeichnet und gespeichert. Spricht der Song „Surrounded By Spies“ darauf an?
Wir erleben gerade eine technologische Revolution, die mit einer Geschwindigkeit vonstattengeht, der wir nicht folgen können. Der erste Computer, der erfunden wurde, brauchte ein ganzes Haus und hatte nur einen Bruchteil der Möglichkeiten, die dein Smartphone dir in deiner Hosentasche anbietet. Technologie ist interessant, spannend, mächtig und fasziniert. Die Technologie hat unser Leben komplett eingenommen. Sie ist ein bisschen wie eine Waffe und nicht nur positiv zu betrachten. Ich glaube nicht, dass wir genau wissen, was wir für dieses Leben gerade opfern. Oder welchem Zweck diese komplette Technologisierung des Lebens eigentlich dient. Wir sind viel besser miteinander verbunden und sparen uns viel Zeit, aber am Ende des Tages sind wir Marionetten für ein paar Menschen, die in großen Konzernen hinter ihren PCs sitzen und uns aushöhlen. Man sollte sich manchmal fragen, welche Motive diese Menschen verfolgen. Ich wohne in einer der wahrscheinlich letzten Straßen Londons, wo es kein CCTV gibt. Jeden Morgen sehe ich leibhaftig, was in der Nacht hier vorging und das zeigt mir, dass die Leute keine Lust darauf haben, überall ausspioniert zu werden. Sie wollen ihre Freiheit und ihren privaten Raum, aber den gibt dir diese Welt nicht mehr.

Passt eine Band wie Placebo perfekt in die Zeit, in der wir uns gerade befinden?
Wow. Es ist heute alles viel härter für Musiker als früher. Eigentlich für alle Menschen, aber ich kenne die Sicht als Musiker natürlich besser. Wir schreiben einfach weiter und arbeiten an neuen Projekten, aber es wird auch für uns zunehmend schwerer, in diesem Markt zu bestehen. Die ganze Industrie hat sich komplett verändert - es ist nichts mehr übrig, wie es Mitte der 90er-Jahre war. Als Musiker überleben zu können wird immer härter, weil die Unterstützungen rundum geringer werden. Wir sind sehr dankbar dort zu sein, wo wir sind und uns ist sehr bewusst, welches Privileg wir genießen. Wenn man älter wird, dann realisiert man, dass man nicht mehr Superman ist, sondern im Leben oft ordentlich strampeln muss. (lacht)

Am 2. November kommt ich für ein Konzert in die Wiener Stadthalle. Wird das Live-Set auch die Technologie widerspiegeln und dieses leibhaftigen „Instagram-Filter“, dessen Ästhetik ihr euch hier bedient?
Wir arbeiten gerade hart daran. Zuerst konzentrieren wir uns einmal darauf, dass die Musik des Albums perfekt in die Hallen passt. Der Rest ergibt sich dann in den nächsten Schritten. Wir versuchen uns derzeit nicht allzu sehr aufzureiben, denn man weiß nicht, ob man im Herbst wieder auftreten kann...

Live in Wien
Unter www.oeticket.com gibt es die Tickets und alle weiteren Infos zu Placebo am 2. November in der Wiener Stadthalle. Neben den famosen neuen Songs darf man sich auch auf eine große Hit-Revue aus knapp 30 Jahren Bandgeschichte freuen.

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