Mit 64 Jahren erlebt der deutsche Schlagerstar Matthias Reim beruflich und privat einen weiteren Frühling. In wenigen Wochen erwartet er sein siebentes Kind von Ehefrau Christin Stark, das neue Album „Matthias“ erobert die Charts und auch die schwer vermissten Liveshows sind wohl bald wieder möglich. Im „Krone“-Interview plaudert der eloquente Vollblutmusiker aus dem Nähkästchen und erklärt, warum die Pandemie gut zu ihm war und die Vergangenheit viel zu oft verklärt wird.
Der schale Biergeruch vermischt sich mit Zigarettenrauch und Schweiß vom Tanzen. Irgendwo im Eck auf dem rot-weiß-karierten Tischtuch liegt der Rest einer Schweinshaxe mit Senfspuren auf einem Pappteller. Auf, neben und auch unter dem Tisch befinden sich Feierwütige, deren Illumination zwischen „eines geht noch“ und „was is‘ mit dir, oida?“ changiert. Und über diese Hieronymus-Bosch-artige Szenerie wummert um 2 Uhr morgens der 1990er-Gassenhauer „Verdammt, ich lieb‘ dich“ aus den Boxen, den Groß und Klein, Frau und Mann, Alt und Jung bis zur Heiserkeit mitgrölen. Das Blut pumpt und die Endorphine kochen über. Ein Event! Ein nahezu vergessenes Glücksrelikt aus längst vergangenen Tagen, das sich still und leise wieder an uns heranpirscht. „Wenn ich sehe, wie Tausende Menschen sich ansingen und dazu abgehen, dann ist das die größte Belohnung“, spricht der Interpret der „Krone“ mit glänzenden Augen ins Diktiergerät.
Pandemie als Turbo
Matthias Reim gelang vor 32 Jahren ein Schlager-Evergreen, der alle Zeiten durchtauchte und auch noch in weiteren 30 Jahren für Begeisterung sorgen wird. „,The Song Remains The Same‘“, fügt er schmunzelnd hinzu, „er bleibt für immer jung. Ganz im Gegensatz zu mir.“ Mit 64 ist Reim aber noch einmal selbst in den Jungbrunnen gefallen. Ihm hat die Pandemie rundum gutgetan, auch wenn es langsam reicht und die Bühne mittlerweile schon sehr laut nach ihm ruft. Mit seiner dritten Ehefrau Christin Stark erwartet er in wenigen Wochen sein siebentes Kind. In ihrem gemeinsamen Domizil am Bodensee hat Reim während Corona ein Fitnessstudio eingebaut und dabei seine alte Liebe zum Rock revitalisiert. „Led Zeppelin, Ozzy, Kansas, das sind meine Helden. Beim Sport brauche ich einen Trigger und das ist unfassbar laute Musik. Nur so komme ich richtig in Fahrt.“
Beim Hanteltraining und auf der Streckbank machte sich Reim Gedanken. Warum bringt ihn die Gitarre von David Gilmour zum Durchdrehen? Wie arrangieren die Rockbands ihre Songs? Was habe ich eigentlich bei meinen Konzerten gemacht? Er ist plötzlich umgeben vom größten Luxus der Welt: viel Zeit. Er hört sich alte Mitschnitte an, geht durch seine ganze Diskografie, baut sein Studio um und schließt sich mit seiner Band wochenlang ein, um alles auseinanderzunehmen, zu überdenken und neu auszuarbeiten. „Ich habe verdammt viel Geld in die Hand genommen und bin beim Klang vom Digitalen zurück zu einer analogen Soundkette gegangen. Ich habe auch bei der Konkurrenz reingehört und lasse mich natürlich nicht lumpen. Ich bin kein Jungspund mehr, aber manchmal übertreibe ich es gerne und brettere mit 300 Stundenkilometern über die Autobahn.“
Großes Selbstbewusstsein
Nicht nur metaphorisch, wohlgemerkt! „Matthias“, so sein neues Album, kletterte in Deutschland auf Platz zwei und bei uns auf Platz fünf der Charts. Hierzulande ist das der größte Erfolg seit seinem Debüt, was er ganz sicher seiner musikalischen Frischzellenkur verdankt. Zwischen klassischem Schlagerfox („Blaulicht“) und partiellen Ausruhmomenten („Schick mir einen Engel“) gibt’s viel Party („4 Uhr 30“, „Reise um die Welt“ mit Versengold) und sogar eine 70er-Jahre-Hammond-Orgel („Acht Milliarden Träumer“) zu hören. „Wenn Plattenfirmen nur noch in Spotify-Regionen denken, sind sie bei mir falsch. Natürlich gehe ich Kompromisse ein, aber eine gut gespielte Hammond ist nicht altmodisch. Hätte ich nach 32 Jahren nicht genug Selbstbewusstsein, dann könnte ich gleich daheimbleiben.“
Reim kennt seine Fans und gibt ihnen jene Geschichten, die sie selbst erlebt haben oder erlebt haben könnten. „Ich versuche meinen alternden Körper im Griff zu behalten, aber ich war nie einer, der Akrobatik ausübt oder auf dem Drachen durch die Halle schwebt. Ich kann Songs schreiben, Gitarren spielen, singen und Geschichten erzählen. Wenn man keinen Salto Mortale macht und nicht tanzen kann, dann müssen eben die Musik und das Licht auf der Bühne passen. Die Leute sollen einfach feiern, wenn der Reim alle zwei Jahre in ihre Stadt kommt. Das gelingt aber nur, wenn man sie emotional berührt.“ Auch Pensionsgedanken wischt der sympathische Blondschopf schmunzelnd vom Tisch. „Geht Ozzy in Pension? Eben. Wenn es die Beine nicht mehr mitmachen, dann stehe ich in 20 Jahren halt mit dem Rollator auf der Bühne. Wir Künstler arbeiten nicht, wir spielen.“
Unabhängig und frei
Wiederkehrende Themen auf „Matthias“ sind Reisen und das Unterwegssein. Mitunter Reims größte Leidenschaften, denen er seit Jahren nicht mehr frönen kann. „Songs entstehen immer aus einer gewissen Sehnsucht. Das Album würde nicht so sein, hätte mir dieser Teil in meinem Leben nicht gefehlt. Das schönste Zuhause ist kein Zuhause, wenn du dort eingesperrt bist. Mir geht es um die pure Magie, die Heimkehr und auch um die Reisen in der Musik.“ Der Song „Reisen durch die Zeit“, vollausgestattet mit 80er-Jahre-Synthies, ist eine Verbeugung vor der Netflix-Serie „Stranger Things“ und weniger dem Wunsch geschuldet, die eigene Nostalgie noch einmal zu erleben. „Ich hatte viele finanzielle Probleme in meinem Leben, aber heute bin ich unabhängig und frei. Ich setze mich drei Stunden ins Büro und zocke ,Call Of Duty‘. Da bin ich einfach weg und entspanne mich. Ich zünde eine Kerze an, stelle mir ein Bier hin und überlege, welche Knarre ich als nächstes nehme.“
Die Sturm-und-Drang-Jahre hat Reim längst hinter sich. Anfang der 90er-Jahre lebte er eine Zeit lang in Florida und genoss die Ungezwungenheit der Jugend. „Wir wuchsen in den 70er- und 80er-Jahren mit US-Popkultur auf. Die Filme, der Lifestyle und die fetten Karren haben mir imponiert. Als ich rüberging, war der Groove noch da und alles war schön unvernünftig. Die Autos waren riesig und das Benzin kostete nichts. Ich habe dort für umgerechnet 2500 Euro einen Flugschein gemacht und bin mit meiner Mama im Tiefflug über die Everglades gerauscht, um Alligatoren zu erschrecken. Ich war Mitte 30 und jeder einzelne Tag war ein großes Abenteuer.“ Das Interesse daran ist längst abgeflacht. „Heute will ich gar nicht mehr rüber, kein Interesse. Wenn ich mir vorstelle, was Trump aus diesem Land gemacht hat, kommt mir das Grauen. Die Zerlegung der Demokratie von dem Mann, der an der Spitze des Landes stand, das wie kein zweites für Demokratie steht. Das macht mich fassungslos.“
Endlich angekommen
Anno 2022 konzentriert sich Matthias Reim lieber auf seine Familie, nötige Ruhepausen und seine generalüberholte Musik. „Mir fehlt der Applaus, aber auch die Routinen, die so eine Tour mit sich bringen. Warten, lesen, duschen, dann noch ein Bier vor dem Auftritt, ich liebe das.“ Das Bier gibt es nun eben daheim. Direkt nach „Call Of Duty“ oder einer Runde auf seinem „Jurassic Park“-Flipper. Verbunden mit langen Unterhaltungen mit Frau Christin. „Sie bietet mir die Stirn und ist knallhart in ihrer Kritik. Ich komme oft um Mitternacht aus dem Studio und dann sitzen wir zusammen und quatschen bis halb drei Uhr morgens. Jeden Tag! Ich fühle mich privat wohl und angekommen, dadurch fügen sich die Dinge von selbst. Ich musste früher immer weg, war extrem unruhig, aber heute bin ich angekommen.“ Die Zeltfest- und Konzertatmosphäre rückt ohnehin immer näher. Und bis dahin lässt sich die Zeit mit „Matthias“ ganz gut überbrücken.
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