Siroccos – VW schrieb’s in den Achtzigern in der Italo-Variante, Scirocco – sind jene Wüstenwinde, die entstehen, wenn heiße, trockene Luft aus der Sahara auf eine kühle, feuchte Mittelmeerbrise trifft. Ein Sirocco – Obacht, jetzt kommt das Besondere! – bringt nicht nur Wüstenstaub mit, sondern ein ganz eigenes, mystisches Heulen, das entsteht, wenn sich die Luftmassen vermischen. Aber genug der Naturkunde – bei der neuen 8800-Edition symbolisiert die anthrazitfarbene Variante die Mittelmeerluft, während das helle Metallkleid für die Wüstenwinde steht. Sagt jedenfalls Nokia…
Audiophilen-Handy mit Avantgarde-Klingeltönen
Der Kreis um das Namensrätsel schließt sich, sobald man Komponist Ryuichi Sakamoto (angekündigt war übrigens Brian Eno) hinzuzieht, der laut Nokia-Website die exklusiven Klingeltöne, die’s nur auf dem 8800 gibt (und die man dank DRM auch nicht per Bluetooth verschicken kann), komponierte und sich dabei von den Sirocco-Winden inspirieren ließ. Bei aller Wüstenwind-Mystik und den Audiophilen-Boni Sakamoto und Zippo-„Klack!“ – das 8800 ist in erster Linie ein Telefon. Und in die Talente dieser technischen Gerätschaft investiert man in erster Linie auch die 1000,- Euro unverbindliche Preisempfehlung, die man für das Edel-Phone im Handel blecht, pardon: bezahlt.
Kein UMTS, kein WLAN – aber „Klack!“
In Sachen Ausstattung brilliert das 8800 zunächst nicht gerade mit Üppigkeit. Im Vergleich zum Vorgänger (hieß auch 8800, aber ohne Wüstenwind) wurden zwar sämtliche Funktionen verbessert, aber eben nicht ganz. Statt der VGA-Kamera ist im Sirocco-8800 zwar eine 2-Megapixel-Kamera integriert und auch der neue Standard Bluetooth 2.0 ist verfügbar, allerdings kommt die Cam ohne Autofokus und Blitz bzw. Hilfslicht und in Sachen drahtlose Verbindung hätte man sich in dieser Preisklasse vielleicht auch ein WLAN-Modul erhofft. Das 8800 ist kein UMTS-Handy, unterstützt aber den schnelleren GPRS-Standard EDGE.
Ansonsten ist alles drin, was man halt so braucht. MP3- und Videounterstützung, E-Mail-Empfang und HTML-Browser via GPRS, UKW-Radio, Diktierfunktion und sämtliche Alltagshelferleins von Kalender über Umrechner bis Weltzeituhr. In Sachen internem Speicher wartet das Nokia 8800 Sirocco mit 100 Megabyte auf. Eine Erweiterung des Volumens per Flash-Karte ist aber nicht möglich. Der Akku überzeugt mit Standbywerten von rund drei Tagen bei mäßigem Telefonieren. Wer ausgiebig knipst, schafft den Akku aber bereits in einer Nacht.
Das 8800 Sirocco kommt im bibelgroßen, mattschwarzen Karton mit Blechspange statt Klebestreifen, die an der Seite den Deckel am Karton hält. Drinnen befinden sich neben Ladegerät, Kabelsalat und Lade-Docking-Station auch ein samtweiches Etui, ein laut Nokia „exklusives“ Bluetooth-Headset und ein weniger exklusiv aussehender Lappen, der aber beim Befreien des 8800-Stahlkleids von fettigen Fingerabdrücken einen sehr guten Dienst erweist.
Schiebe-Tick und Polierfimmel
Betrachtet man das 8800 einmal rein von Optik und Haptik her, so hat man es mit einer echten Schönheit zu tun. Nicht umsonst bekam Nokia dafür einen Design-Award. Mit 138 Gramm ist das (auch innen) aus extra viel Metall gebaute Handy aber nicht unbedingt ein Leichtgewicht und könnte der einen oder anderen locker sitzenden Jogginghose im Straßenbahn-erwischen-Laufschritt Flügel verleihen. Aber der Hauptwohnsitz des 8800 ist ohnehin in der Sakko-Tasche oder im Louis-Vuitton-Handbag gemeldet.
Wie schon oben erwähnt ist das warme, satte „Klack!“ des schnappenden Schiebemechanismus ein absolutes Highlight, von keinem anderen Gerät am Markt zu übertreffen und nicht nur für Liebhaber des guten Tons absolut süchtig-machend. Bereits nach ein, zwei Tagen merkt man die ersten Anzeichen eines „Ich muss mein Telefon aufschieben“-Ticks, der erst nach gut einer Woche eifrigen Klackens und etlichen kollegialen Ermahnungen allmählich abebbt. Den Polierfimmel wegen der Fingerabdrücke (Horatio Caine würde sich daran zu Tode pudern) kriegt man als 8800-Benutzer aber nie ganz weg.
„0, hab ich gesagt!“
Dem tollen Schiebemechanismus hat man es allerdings auch zu verdanken, dass der Ziffernblock, die Annahmetasten und das Navigationsquadrat auf relativ engen Raum gequetscht werden mussten. Die quadratische Navigationstaste, die die mittlere Bestätigungstaste wie eine Art Ummauerung umschließt, ist dabei noch relativ gut davongekommen. Sie ist zwar klein, aber sehr leichtgängig und man gewöhnt sich nach kurzer Umstellung recht schnell. Im Vergleich zu den „Knubbel“ von Nokia N73 oder auch 6230i ist das definitiv wieder ein Fortschritt in Richtung „Gib Menschen mit Würschtelfingern doch auch mal eine Chance“.
Beim Ziffernblock sieht das schon anders aus. Die Tasten sind nicht gerade hoch und relativ schmal, was bis zur Taste 9 nicht besonders stört. Bei Stern, Raute und vor allem der Null gerät man mit getrimmten Fingernägeln an seine Grenzen - anatomisch, und an besonders kalten Tagen (= starre Glieder) auch nervlich. Die Null sitzt einfach zu nah am Rand, man muss in die ca. drei Millimeter hohe Kante drücken und hoffen, dass man die Taste erwischt. Eines noch zum Menü: Für das 8800 verlässt sich Nokia auf die altbewährte Technik und verwendet kein Symbian-Betriebssystem.
Fazit: Exklusiver Hingucker mit starkem Selbstbewusstsein
Schön ist es zweifelsohne, das Wüstenwind-Handy. Auch um die Exklusivität, die Nokia bei diesem Edeltelefon so oft betont, muss man sich keine Sorgen machen. Die Optik ist trotz Fettabdruck-Anfälligkeit einfach sagenhaft (im Prinzip sieht's mit Fingerabdrücken noch besser aus, weil der Lack dann wie eine Ölpfütze schimmert), und wen das ein bisschen höhere Gewicht nicht stört, der wird jede Menge Freude am 8800 haben, das dank seiner Robustheit sicher einige Jahre Heavy Duty überdauern könnte.
Die Klingeltöne sind tatsächlich angenehm, wenn auch nicht gerade die Juppie-Bar-Brüller (vielleicht hätte man Herrn Eno doch noch einmal gut zureden sollen) und auch vom Telefonierverhalten müssen bis auf die schwer zugängliche letzte Zeile des Ziffernblocks nirgendwo Abstriche gemacht werden. Auch die Menüs klappen schnell auf, nichts hakt, nichts ruckelt. Der Kamera hätte man ruhig noch ein Lichtlein, Autofokus und 1,2 Megapixel mehr spendieren können und eine UMTS-Version wäre vielleicht auch ganz spannend.
Aber auch wenn das alles drin wär, letztendlich muss das 8800 Sirocco sein Auftreten aber sowieso mit mehr als nur selbstbewussten Argumenten à la „Sensual nature“ (© Nokia-Website) unterstreichen, denn rund 1000,- Euro UVP ohne Vertrag muss man sich erst einmal verlangen trauen. Auch mit Vertrag bekommt man das 8800 nicht unter 700 Euro. Aber wer mit Wüstenwinden telefonieren will, muss halt vorher den „Feg-alles-weg-Orkan“ übers Konto brausen lassen…
Christoph Andert
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