In einem emotionalen, siebenseitigen Brief schildert die Mutter der heute 80-jährigen Burgi Siedl detailgenau, wie sie 1945 hochschwanger aus dem Bezirk Lilienfeld gemeinsam mit ihrer Mutter zu einer Freundin nach Tirol flüchtete.
Tränen in den Augen hat die heute 80-jährige Burgi Siedl aus Eggendorf bei Wiener Neustadt, wenn sie aus dem Brief vorliest, den ihr ihre geliebte Mutter noch im November 2004 geschrieben hat. Damals war die Mutter bereits selbst 80 Jahre alt. In diesen Zeilen schildert sie detailgenau, wie sie 1945, 21 Jahre alt und mit Burgi Siedl im achten Monat hochschwanger, aus einem kleinen Dorf im Bezirk Lilienfeld, flüchten musste.
„Es gab keine Autos, keine Busse, nur die eigenen Fahrräder“, schrieb ihre Mutter. Als im Mai 1945 dann die Bombardierung von Wiener Neustadt sogar bis in unsere Bergeinsamkeit zu hören war und die Russen immer näherkamen, dachten wir an Flucht“.
Für die Mutter war klar, dass das nahegelegene Schulhaus als Besatzungstützpunkt dienen würde. „Als die Lage ganz kritisch wurde, erschien ein Offizier und bot mir einen Platz auf dem letzten LKW an, der den Ort verließ“. Nur einen Rucksack und einen Koffer durften sie und ihre Mutter, also Burgis Großmutter, mitnehmen.
Tiefflieger, Bombenangriffe und „zerstörte Gretlfrisuren“
Die Fahrt hat sie nie vergessen. Diese führte unter Beschuss von Tieffliegern durch Partisanengebiet, über schlechte Straßen. „Stellenweise lag noch Schnee. Tote Pferde und zerbrochene Wägen säumten den Wegesrand“, schrieb die Mutter. Vor allem die detailgetreuen Kleinigkeiten machen den Brief für Burgi Siedl so emotional. „Eine rasante Fahrt durch eine Obstbaum-Allee fetzte uns fast von der Ladefläche. Die Zweige peitschten uns ins Gesicht und rissen uns die aufgesteckten Gretlfrisuren vom Kopf“, schildert die Mutter erst den Beginn einer anstrengenden Flucht.
In Seitenstetten verließen sie den Zug, verbrachten eine schlaflose Nacht in einer „Irrenanstalt“, flüchteten in einen Pferdestall. Weiter ging es nach Amstetten - nun mit einem Ziel vor Augen die beiden Frauen wollten zu einer Freundin nach Tirol. „Wenn ich heute daran denke, was ich damals alles ausgehalten habe – im 8. Monat schwanger“, schreibt Siedls Mutter über die Flucht in den überfüllten Zügen. Aber nie seien sie und die Mutter in Panik verfallen.
Nach Wörgl musste der Zug wieder anhalten, weil ein Fliegerangriff die Bahnstrecke auf zwei Kilometer Länge unterbrochen hatte. Diese zwei Kilometer mussten nun mitten in der Nacht zu Fußzurückgelegt werden. „Die Dramatik dieser nächtlichen Wanderung vergesse ich nie“, so die Mutter. „Der Bahndamm war sehr hoch, in der Dunkelheit stürzten viele den steilen Schotter hinunter“. Der nächste Zug, den sie erreichten, hatte noch weniger Platz. Und so mussten sie in dem übervollen Wagon die Fahrt im Freien außerhalb der Wagons verbringen.
Schlussendlich erreichten die beiden Damen dann doch ihr Ziel, Tirol. Und dort, auf einem Bauernhof im idyllischen Brandenberg, kam einen Monat nach der anstrengenden Flucht, Burgi Siedl gesund zur Welt.
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