50 Jahre „Aqualung“

Jethro Tulls Martin Barre: „Distanz war wichtig“

Musik
29.11.2021 06:00

Mit ihrem vierten Album „Aqualung“ katapultierten sich die Briten von Jethro Tull vor exakt 50 Jahren für ein gutes Jahrzehnt in den Prog-Rock-Olymp. Bis zum großen Split vor neun Jahren war Gitarrist Martin Barre stets an der Seite von Frontmann und Songwriter Ian Anderson. Barre erinnert sich im Wiener Reigen im Gespräch mit der „Krone“ an die alten Zeiten und nimmt sich dabei kein Blatt vor den Mund.

(Bild: kmm)

Uriah Heep hatten „Look At Yourself“, Yes „The Yes Album“, Soft Machine „Fourth“, Caravan „In The Land Of Grey And Pink“, Emerson, Lake & Palmer „Tarkus“ und Genesis „Nursery Crime“ - das sind nur einige wenige Alben, die im Prog-Rock-Überjahr 1971 veröffentlicht wurden und mehr oder weniger in direkter Konkurrenz zu Jethro Tull standen. Deren „Aqualung“ erblickte im selben Jahr das Licht der Welt, feiert also somit seinen 50. Geburtstag und hat die Karriere der Truppe aus dem beschaulichen Blackpool in England vier Jahre nach der Gründung radikal verändert. Das lose an einem religiösen Konzept festgemachte Album mit dem markanten Artwork verkaufte sich mehr als sieben Millionen Mal, hatte mit „Locomotive Breath“ zumindest eine unsterbliche Single aufzuweisen und katapultierte die Band rund um Frontmann und Flötist Ian Anderson für ein gutes Jahrzehnt in den Rock-Olymp.

Rock im Prog
Als man im Dezember 1970 in die Morgan Studios ging, arbeiteten gleichzeitig Led Zeppelin in einem kleineren Studiokomplex an ihrem noch unbetitelten vierten Album, in die Quere kamen sich die beiden Rock-Schwergewichte aus England aber nur selten. Für Drummer Clive Bunker war es der letzte Auftritt bei Jethro Tull, bevor er sich von der Musikwelt verabschiedete, um eine Familie zu gründen. Für Gitarrist Martin Barre aber genauso wie für Anderson der große Durchbruch. Barre, der 1968 Mick Abrahams ersetzte und mit seinem vorwärts gerichteten Spiel deutlich mehr Rock in den Prog-Sektor der Band brachte, prägte das Werk entscheidend mit. Auch wenn Anderson alle Songs schrieb, war es Barres Spiel vorbehalten, dass „Aqualung“ eine Abkehr von den vorigen Alben und der Startpunkt für eine Weltkarriere wurde.

Wenig später folgten die Erfolgsalben „Thick As A Brick“ und „Passion Play“ und Jethro Tull wurden in den 70er-Jahren zu einer der größten Bands der Welt, die teilweise mit exaltierten und monströsen Liveshows aufwartete. Neben dem diktatorischen Alleinunterhalter Anderson überleben zu können war nicht einfach, Tull verbrauchte über die bislang 54 Jahre der Band rund 40 Musiker. Barre hielt es als längster Sidekick 43 Jahre neben Anderson aus, verließ die Truppe 2012 dann aber unfreiwillig im Unfrieden. Während Ian Anderson den originalen Namen beibehält und im Jänner mit „The Zealot Gene“ sogar ein neues Studioalbum veröffentlicht, hält Barre mit einem Haufen guter Freunde das Vermächtnis der Band und seiner Klassiker aufrecht, indem er regelmäßig durch Europa tourt. Kurz vor dem Lockdown machte der 75-Jährige wieder einmal im Wiener Reigen Station und sprach mit uns über das Kultalbum „Aqualung“, die jahrelang vergiftete Beziehung zu Ian Anderson und warum er sich heute auf Tour wieder so fühlt wie mit Anfang 20.

„Krone“: Martin, du warst neben Ian Anderson der integralste Bestandteil des legendären Albums „Aqualung“ von Jethro Tull, das heute seinen 50. Geburtstag feiert. Woran erinnerst du dich, wenn du an die Entstehung und die Aufnahmen zurückdenkst?
Martin Barre: Ich könnte ein Buch darüber schreiben. (lacht) Damals ist in der Musikszene viel passiert und „Aqualung“ war auch für uns eine große Abkehr vom Bisherigen. Anfangs ging es nicht so gut dahin und wir haben nicht daran geglaubt, dass wir ein gutes Album gemacht hätten. Wir waren extrem überrascht, dass es so erfolgreich wurde, weil wir selbst nicht damit zufrieden waren. Zwischenzeitlich dachten wir, mit der Band wäre es vorbei. Aber wir haben das gemacht, was wir immer taten: einfach weitermachen. Ob die Leute das Album mögen oder nicht, wir wollten es fertigstellen.

Yes, Emerson, Lake & Palmer und Genesis haben 1971 im Progressive-Rock-Bereich genauso neue Alben rausgebracht, die alle sehr gut, aber natürlich anders waren. Gab es damals eine große Rivalität zwischen all diesen Bands?
Nicht wirklich. Wir waren als Jethro Tull damals in unserer ganz eigenen Kategorie. Wie in einer Parallelwelt. Wir wussten immer ganz genau was die anderen gerade machten, aber es gab sonst keine Band, die unsere Ideen in der Musikwelt teilten. Wir hatten keine Berührungspunkte und das war ein Vorteil. Wir waren damals eine der Top-10-Touringbands und haben uns nicht sonderlich um andere gesorgt. (lacht)

„Aqualung“ war der vielleicht wichtigste Meilenstein der Jethro-Tull-Historie. Habt ihr zumindest nach der Veröffentlichung schnell gemerkt, dass hier etwas ganz Besonders gelungen ist?
Ruhm und Erfolg waren uns immer egal. Diese Dinge waren vielleicht eine Belohnung, aber sicher kein Grund für etwas. Wenn wir mit etwas Erfolg hatten, haben wir unsere Augen nach der nächsten Tour oder dem nächsten Album ausgerichtet. Es gab immer nur den Blick nach vorne.

Habt ihr damals nicht das Studio mit Led Zeppelin geteilt, als die gerade ihr Meisterwerk „IV“ einspielten?
Wir waren im selben Studio, haben sie aber nie gehört. Ein- oder zweimal sind wir uns über den Weg gelaufen, aber das war es auch schon. In den 70er-Jahren hat man sich die ganze Zeit irgendwo getroffen. Das war das Normalste auf der Welt. Einmal Led Zeppelin, dann Yes, dann Buddy Rich. Ganz alltäglich.

Du hast 1968 Mick Abrahams an der Gitarre bei Jethro Tull ersetzt und den Rock in die Band gebracht. Inwieweit konntest du dich neben dem Chef Ian Anderson denn austoben und durchsetzen?
„Aqualung“ war das erste Album, wo ich wirklich den Raum bekam, um mich als Gitarrist richtig zu entfalten. Ich hatte vom ersten Tag an mehr Platz und wusste, dass ich den Bluesrock stärker forcieren möchte. Ich musste niemanden fragen, was zu tun ist, aber das galt auch für alle anderen. Wir haben einfach das gemacht, was wir für richtig hielten und auf magische Weise hat das funktioniert.

Ende der 70er-Jahre waren Jethro Tull am Gipfel der Popularität und im ausverkauften New Yorker Madison Square Garden gab es Konzerte mit Raketen und allerlei Effekten. Vermisst du diese Zeit, wenn du daran zurückdenkst?
Das war wirklich der Höhepunkt für die Band, ein Meilenstein. Keine Band hatte damals solche Shows gespielt und alle wollten das sehen. Heute würde man über Raketen lachen, aber damals war das wirklich sensationell. Ich habe nur gute Erinnerungen daran.

Im Gegensatz zu Ian Anderson warst du immer der bescheidene, zurückgelehnte Typ der Band. Hast du dich in solch üppigen Settings überhaupt wohlgefühlt?
Ich kann auch ganz anders, glaub mir. (lacht) Ich kann genauso ein Egoist sein und mich durchsetzen. Bei Jethro Tull musstest du auf der Bühne ein Ego entwickeln, denn sonst wärst du kollabiert. Aber dieses Ego habe ich nur auf der Bühne. Wenn ich runtersteige bin ich gleich wie jeder andere. Ich habe niemals den Hypes geglaubt. Ich bin auch nicht bescheiden, sondern einfach normal. Es gibt in der Musikszene zu viele Typen, die sich für besonders herausragend halten und eine sehr hohe Meinung von sich haben. Sie füttern ihren eigenen Narzissmus und ihren eigenen Egoismus mit diesem Gift. Damit verlierst du den Kontakt zu den normalen Menschen völlig. Ich wollte nie anders oder speziell sein. In der Musikwelt gibt es wahrscheinlich 10.000 bessere als mich und man muss sich dessen bewusst sein. Wenn du dir die globale Skala des Könnens ansiehst und klassische Musiker oder Jazzmusiker beobachtest, dann brauchst du dir als Rocker nichts vormachen. Sich besser vorzukommen als andere ist immer ein Fehler.

Ian Anderson und du wart schon vor dem großen Split 2012 ein Duo, das vom Typ her niemals wirklich zusammenpasste. Wie hat die Zusammenarbeit bei euch über 43 Jahre dann doch funktioniert?
Ich habe ihn vermieden, so oft es ging. Ganz im Ernst: Leute, die ihm nahekommen, werden verletzt. Ich wusste früh, dass ich Distanz zu ihm üben müsste, denn sonst hätte es niemals so lang geklappt mit uns. Er brauchte sehr viel Platz, weil er eine unglaublich laute, präsente und auch streitsüchtige Persönlichkeit ist. Ich wollte nie ein Teil von diesen Launen sein. Er ist natürlich auch eine herausragende Person, denn er war dafür verantwortlich, dass die Band und die Marke Jethro Tull das war, was sie eben immer war. Wir hatten aber nichts gemeinsam. Von den rund 40 Personen, die über die Jahre bei Jethro Tull spielten, würde ich drei als echte Freunde bezeichnen. Mit denen habe ich vieles geteilt, alle anderen waren Arbeitskollegen, mit denen man so gut wie möglich klarkommt. In einer Band verbringt man extrem viel Zeit miteinander. Man arbeitet zusammen, reist zusammen, sieht zusammen die Welt und erlebt den Jubel. Natürlich entsteht daraus Freundschaft, aber keine wahre, richtige. Jethro Tull war nie eine große Familie, so wie das manche gerne sehen würden. Es gab viele Vorfälle, die absolut nicht dafür sprechen. Ich bereue aber nichts und jeder Musiker war in seinem Metier gut und verhalf der Band zu ihrem Erfolg. Jeder war anders und das brachte immer frische Einflüsse in die Band.

Für Jethro-Tull-Fans gibt es zwei Möglichkeiten, ihre Band zu hören und zu sehen. Ian Anderson hat sich den Namen gekrallt und bringt jetzt sogar ein neues Album raus, du spielst die großen Klassiker und Raritäten in wesentlich kleineren Locations. Wie willst du das Vermächtnis dieser Band weiterführen?
Ich habe keine Ahnung was Ian macht, ich beobachte das nicht. Ich habe diese Band nie gehört und weiß nicht, wie ihre Konzerte aussehen. Es gibt auf keinen Fall einen Wettbewerb, denn Ian und ich sind sehr weit davon entfernt in der Ansicht, wie und was wir auf der Bühne machen. Bei mir sind in den letzten Jahren die Soloalben wichtiger geworden und die haben keine Berührungspunkte mit Jethro Tull. Anderson nennt seine Band heute Jethro Tull, aber die Fans müssen entscheiden ob das okay ist. Ich bin Martin Barre, ich war ein Teil der Band und würde niemals durch die Welt gehen und sagen: „Seht mich an, ich bin Jethro Tull. Bei mir bekommt ihr Jethro Tull“. Ich spiele was ich will. Jethro-Tull-Songs, Gov’t-Mule-Songs, Beatles-Songs, meine Solo-Songs. Ich bin absolut unabhängig und das Vermächtnis von Jethro Tull ist extrem wichtig für mich.

Ich habe nicht die Rechte an der Musik, aber ich fühle mich ihr verpflichtet. Ich war 43 Jahre lang ein Teil davon. Man kann ein Projekt ohne mich natürlich Jethro Tull nennen, aber das ändert für mich nichts. Die Geschichte ist geschrieben, sie lässt sich nicht verändern, auch wenn das manche gerne wollen. Die Leute, die an „Aqualung“ oder „Thick As A Brick“ mitgearbeitet haben, werden immer ein Teil davon sein. Du kannst klagen und jammern so viel du willst, aber all das ist geschichtlich festgeschrieben und nicht mehr abzuändern. Ich habe die volle Kontrolle über alles, was ich spielen will und bin frei, daraus zu wählen. Es gibt für einen Künstler keine schönere Position. Ich bin froh über diesen Frieden und diese Unabhängigkeit.

Wirst du 2022 etwas veröffentlichen? Was sind die nächsten Pläne, die du verfolgst?
Touren, touren, touren. So weit es nur irgendwie möglich ist. Durch die Coronasituation ist das natürlich schwierig, aber es ist schon viel möglich und wir versuchen das so gut wie möglich zu nutzen. Ich will einfach nur spielen und so viel Geld verdienen, dass ich die Jungs in der Band bezahlen und mir ein halbwegs gutes Leben leisten kann. Meine Band ist fast so, wie es Jethro Tull in den 70ern war. Eine arbeitende Band, die mit Freude musiziert. Wir touren sehr traditionell und teilen uns alle ein Auto. Wir stoppen für einen Kaffee und für Toilettenpausen. Fast so wie ganz früher. Bands teilen sich die Musik, die Erlebnisse und das Leben. Irgendwo biegt man schnell falsch ab, wenn man größer wird und man vergisst auf das Wesentliche. Das Schöne an der Musik ist aber die Gemeinschaft und die ist heute bei mir gegeben.

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