Millionen Internetnutzer in Russland sind derzeit angehalten, ihre Postings in sozialen Netzwerken zu „bereinigen“. Grund ist ein kürzlich erfolgtes Verbot, das oppositionelle Organisationen sowie investigative Internetmedien als „extremistische“ bzw. „unerwünschte“ Organisationen brandmarkt. Wer dennoch in aktuellen, aber auch früheren Postings auf diese nunmehr verbotenen Strukturen verweist, dem drohen Verwaltungs- bis hin zu Haftstrafen.
Der neue Status des „Fonds zur Bekämpfung der Korruption“ von Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, den ein Moskauer Gericht vergangene Woche rechtskräftig zu einer „extremistischen Organisationen“ erklärt hat, sowie die kürzlichen Brandmarkungen von NGOs und kritischen Internetmedien wie proekt.media als „unerwünschte Organisation“ könnte für viele politisch interessierte Russinnen und Russen zu Problemen führen: Sofern bei Internet-Postings von Inhalten des verbotenen Nawalny-Fonds dieser nicht explizit als „extremistische Organisation“ ausgewiesen wird, gilt dies als Verwaltungsübertretung.
Ähnliches gilt für Postings und Likes in Bezug auf „unerwünschte Organisationen“, die sich nach dem Inkrafttreten der aktuellen Verbote weiterhin auffinden lassen. Hier sind im Wiederholungsfall auch Gefängnisstrafen möglich.
Potenziell Millionen Menschen betroffen
„Potenziell sind Millionen von Menschen betroffen“, sagte der Jurist Damir Gajnutdinow, der sich im Rahmen seiner Initiative „Netzfreiheiten“ intensiv mit der Frage beschäftigt, der APA am Montagabend. Ende vergangener Woche forderte er Internetbenutzer in ganz Russland auf, schnell zu reagieren: Zur Vermeidung von Konsequenzen gelte es, eigene, nunmehr umstrittene Publikationen in sozialen Netzwerken schneller als staatsnahe Aktivisten und Extremismusbeauftragte der Polizei aufzuspüren.
Postings verjähren nicht
Problematisch sei vor allem die Praxis im russischen Verwaltungsstrafrecht, historische Internet-Publikationen mit erst später verbotenen Inhalten als fortdauernden Verstoß zu interpretieren, bei dem es im Unterschied zum Strafrecht keine Verjährung gebe, erläuterte Gajnutdinow. Daher könnten auch Internet-Veröffentlichungen vor 15 oder 20 Jahren zu Strafen führen. Er erinnerte gleichzeitig daran, dass zuletzt aber auch manche Kommentare im Internet auf Grundlage von Extremismusgesetzen wiederholt mit mehrjährigen Haftstrafen sanktioniert worden seien.
Vorsichtsmaßnahmen waren in den letzten Tagen jedenfalls im russischen Internet zu bemerken. Eine Petersburger Aktivistin, die für eine NGO tätig ist, berichtete, dass innerhalb von zwei Tagen zumindest sechs ihrer Freundinnen und Freunde auf Facebook ihr altes Konto gelöscht und ein neues Konto angelegt hätten. „Natürlich habe ich meinen Twitter-Account gesäubert und alle Tweets gelöscht, die auf proekt.media verwiesen haben“, gestand auch ein prominenter Moskauer Journalist.
„Jeder fühlt sich schutzlos“
„Es beginnt derzeit die Anpassung an neue Spielregeln“, kommentierte Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie-Zentrum. Der Innenpolitikexperte sieht aber auch den Anfang einer zunehmend verbreiteten Angst, die die Vernichtung von Medien durch ihre Erklärung zu „ausländischen Agenten“ sowie zu „unerwünschten Organisation“ ausgelöst habe. Eine besondere Rolle spiele aber auch die Erklärung von Personen zum „ausländischen Medienagenten“, die Betroffenen das Leben massiv erschwere.
„Das ist ein riesiges Problem, jeder fühlt sich schutzlos“, schilderte Kolesnikow. Genau so habe sich alles auch in sowjetischen Zeiten entwickelt, mahnte der Experte und sprach von „vorauseilendem Gehorsam“.
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