Flüchtlinge in Not
Psychische Probleme auf Inseln nehmen stark zu
Flüchtlinge und Migranten auf griechischen Inseln wie Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros leiden zunehmend unter psychischen Problemen. Demnach hat sich die Situation vor allem wegen der Corona-Pandemie und dem Lockdown der Lager verschlimmert. Man habe einen 71-prozentigen Anstieg von Personen verzeichnet, die über psychotische Probleme klagten, die Zahl der Selbstverletzungen sei gar um 66 Prozent gestiegen. Für viele Ärzte, Helfer vor Ort und auch Politiker zeige die aktuelle Flüchtlingssituation „menschenunwürdige“ und „inakzeptable“ Zustände auf, sie sei „ein Armutszeugnis für ganz Europa“. Eine langfristige, europäische Lösung müsse her - dringend.
Ein Bericht, den die Hilfsorganisation IRC (International Rescue Committee) am Donnerstag in Athen veröffentlicht hat, zeigt die horrenden physischen und psychischen Zustände in Flüchtlingscamps auf. IRC beruft sich hierbei auf Daten, die Psychologen zwischen März 2018 und Oktober 2020 erhoben haben. In diesem Zeitraum habe IRC auf Lesbos, Samos und Chios 904 Menschen betreut, von denen 41 posttraumatische Symptome zeigten und 35 Prozent von Suizidgedanken sprachen.
Verhältnisse „lebensgefährlich“
Die Menschen seien per Lockdown gezwungen worden, in Lagern zu bleiben, in denen es schmutzig und gefährlich sei, in denen man für Essen und Toiletten Schlange stehen müsse und es kaum Platz für Hygiene und Abstand gibt, begründete die Organisation, die aktuell rund 80 Mitarbeiter vor Ort hat, den Anstieg. Die Verhältnisse wären „unzumutbar“, nun spitze sich die Lage dramatisch zu, sie sei mittlerweile „lebensgefährlich“. Insbesondere das Leid der Kleinsten sei untragbar. Zig Kinder mit Selbstmordgedanken oder nach Selbstmordversuchen habe Ärzte ohne Grenzen seit Jahresbeginn behandelt.
„Menschen vegetieren dahin“
„Auf europäischem Boden vegetieren Menschen, darunter viele Familien und Kinder, unter Zuständen dahin, die Folter beziehungsweise unmenschliche Behandlung darstellen. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen und nichts zu diskutieren. Für Schuldzuweisungen ist nun nicht die Zeit. Nun ist es schon überfällig zu handeln“, beurteilt auch Stephanie Krisper, NEOS-Sprecherin für Migration und Asyl, die Situation.
Hilfe vor Ort alleine „unmenschlich“
Die dramatische Situation in Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln sei der „traurige Beweis“, dass Hilfe vor Ort nicht funktioniere, heißt es seitens des Wissenschaftsnetzwerkes Diskurs. Die Politik müsse rasch handeln, „so lange ein drohender Kontrollverlust“ an den EU-Außengrenzen noch abgewendet werden könne. Hilfe vor Ort alleine sei „unmenschlich“ und erhalte genau jene Strukturen aufrecht, die „ursächlich für den Brand in Moria waren: chronische Überfüllung, lange Aufenthaltsdauer, fehlende Perspektiven, unzureichende Unterbringung und Versorgung“, erklärt Politikwissenschaftler Alexander Behr.
„Sogar in Moria war es besser“
„Menschenunwürdig“ seien auch die Zustände im Flüchtlingslager Kara Tepe: Dort könnten aktuell nicht einmal die Grundbedürfnisse der rund 7000 Geflüchteten erfüllt werden. So gebe es kaum Warmwasserduschen und zu wenige Toiletten. Der Winter, der über die Insel hereingebrochen ist, hat für eine Überschwemmung Tausender Zelte gesorgt. Die notdürftigen Behausungen würden teilweise gar nicht mehr trocknen, die Menschen müssten in „feuchten bis nassen“ Zelten schlafen, sogar Kleidung würde schimmeln, erzählt Rotkreuz-Mitarbeiterin Christine Widmann.
Video: krone.tv-Reportage: Lokalaugenschein in Kara Tepe:
„Solidarität zeigen“
„Die Flüchtlingssituation ist ein Armutszeugnis für ganz Europa. Kein Mensch sollte in der EU gezwungen sein, im Zelt zu leben, schon gar nicht im Winter“, kritisiert auch Rotkreuz-Präsident Gerald Schöpfer. Er forderte die türkis-grüne Regierung einmal mehr auf, „Solidarität zu zeigen“.
Manche Bewohner sagen, dass es teilweise sogar in Moria besser war.
Rotkreuz-Mitarbeiterin Christine Widmann
Situation „untragbar“
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist für eine sofortige Evakuierung Geflüchteter auf den griechischen Inseln. Die Situation dort sei „untragbar“ und „menschengemacht“. Die europäische Politik müsse sich auf ihr Fundament, die Menschenrechte, besinnen und international menschenrechtskonforme Lösungen vorantreiben.
Fakten & Hintergrund
Auf den griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros leben aktuell nach Angaben des griechischen Bürgerschutzministeriums rund 17.000 Migranten. Vor allem auf Lesbos ist die Situation schwierig - dort war im September das Flüchtlingslager Moria abgebrannt, seither leben mehr als 7000 Menschen in einem provisorischen Zeltlager, das bei Regen unter Matsch und Wasser steht.
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