„Krone“-Kolumne

Heute ist morgen schon gestern

Leben
05.04.2020 06:00

Was passiert da gerade mit uns? Mit unserer Gesellschaft? Mit unserem Leben? Es ist nicht leicht, die Ungewissheit dieser Tage auszuhalten. Die Angst vor dem, was kommt und ist. Vieles lässt sich noch gar nicht einordnen. Man kann es nur aushalten.

„Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es vorwärts“, hat der Theologe Søren Kierkegaard einst gesagt. Wie wahr das ist, müssen wir dieser Tage schmerzhaft erleben. Vielen Menschen macht das Angst. Sie würden lieber erst verstehen, dann leben. Ich auch.

Immer wenn ich mich dann ertappe, beim Planen oder beim Sorgenwälzen, dann erinnere ich mich an die uralte chinesische Geschichte vom alten Mann, der mit seinem Sohn und seinem Pferd in einem kleinen Dorf lebte. Das Pferd war so schön, dass alle ihn beneideten und ihm viel Geld dafür boten. Aber der Mann verkaufte nicht. Eines Tages war das Pferd verschwunden, und die Leute sagten: „Du dummer Alter. Hättest du das Pferd verkauft, wärst du jetzt sorgenfrei. Nun hast du nichts mehr – welch Unglück!“ Der Alte sagte nur: „Wer weiß, ob es ein Unglück ist.“

Bald darauf kam das Tier zurück und brachte zwölf prächtige Wildpferde aus den Wäldern mit. Und die Leute riefen: „Was für ein Geschenk – welch Glück!“ Aber der Alte meinte nur: „Wer weiß, ob es ein Glück ist.“

Der Sohn begann, die Pferde zuzureiten. Dabei stürzte er so unglücklich, dass seine Beine für immer verkrüppelt waren. Die Menschen kamen, um das Unglück zu betrauern. Doch der Alte meinte nur: „Wer weiß, ob es ein Unglück ist.“

Wenig später zog ein furchtbarer Krieg ins Land. Alle jungen Männer wurden eingezogen, viele von ihnen fielen. Nur der lahme Sohn des Alten nicht ...

Niemand von uns weiß, was die Zukunft bringt. Sie kommt ohnehin immer anders, als man denkt. Und selbst die Gegenwart haben wir nur in einem geringen Ausmaß in unserer Hand. Was wir aber in der Hand haben, ist unsere Reaktion auf das, was geschieht. Wir können versuchen, die Dinge mit Gelassenheit zu nehmen. Mit Gottvertrauen und Zuversicht. Im Wissen, dass alles vorübergeht. Denn heute ist morgen schon gestern.

Julia Schnizlein, Kronen Zeitung
julia.schnizlein@stadtkirche.at

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(Bild: kmm)



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