In der Wiener Arena

Punk-Ikone Patti Smith: Eine muss es ja tun

Wien
22.07.2022 05:00

Zärtlich, wütend, mitfühlend, verwirrt, erfreut, zufrieden - die Emotionspalette von Patti Smith, der „Godmother Of Punk“, war Donnerstagabend am restlos ausverkauften Open-Air-Gelände der Arena Wien breit gefächert. Noch immer ist sie das gewichtigste Sprachrohr für die Unterdrückten und die gesellschaftspolitisch wichtigste Frau der Musikgeschichte. Ihr Konzert war ein einziger Triumphzug. Heute gibt es noch einen Nachschlag in der Arena ganz im Zeichen der Volkshilfe-Aktion „Nacht gegen Armut“.

Patti Smith und die Wiener Arena - ein match made in heaven. Seit vielen Jahren pflegen die beiden eine wundervolle und inspirierende Beziehung zueinander, die sich alle paar Monde in expressiven Livekonzerten ausdrückt. Bei beiden ist der Punk ein bisschen in die Jahre gekommen, aber man kommt allein schon deshalb immer wieder gerne zurück, um sich die eigene Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Scheiß auf all die Konzerne und Regierungen, wie Patti selbst im Mittelteil des rund 105-minütigen Sets sinngemäß ins Arena-Oval schreit. „We are the future“. Wenn man sich die Welt im Großen und auch persönlichen Kleinen so ansieht, bleibt nur wenig Hoffnung auf eine späte Rettung durch umstürzlerische Anarchie. Umso wichtiger und auch bemerkenswerter ist es, dass die mittlerweile 75-jährige Patti Smith noch immer die Fahnen der Mitmenschlichkeit und Zukunftshoffnung hochhält, obwohl es sie selbst überhaupt nicht mehr betrifft. Alte, weiße Männer - schaut genau hin!

Spiegel unserer Unzulänglichkeiten
Von denen sind auch ausreichend da, beim ersten von zwei Open-Air-Auftritten in der Baumgasse musste das „Ausverkauft“-Schild schon vor einiger Zeit angebracht werden. Alle wollen sie noch einmal Patti sehen und ihr vor allem zuhören. Die Wahl-New-Yorkerin bringt uns wie keine Zweite unsere eigenen Unzulänglichkeiten auf mehr als charmante Weise näher. Haltung ist bei ihr das oberste Prinzip. Zeit ihres Lebens kämpft sie gegen die Unterdrücker und Machtbeflissenen und hat sich den durchaus charmanten Beinamen „Godmother Of Punk“ nicht aufgrund obszön-schrammeliger Songs, sondern wegen ihres sozialen Gewissens verdient. Viele von uns darben in Bank-, Versicherungs- oder großen Kaufhausjobs und trauern den hehren Idealen unserer Jugend nach. Wie konnten uns Turbokapitalismus und Opportunismus nur so erwischen? Und warum hat es Patti besser gemacht?

Das Reggae-lastige „Redondo Beach“ samt Arena-Liebesbotschaft wird als Einstand dargeboten und täuscht. So gut ist der Track nämlich gar nicht, aber die nachfolgenden werden dafür immer besser. Das wundervolle „Grateful“ exerziert die geborene Lyrikerin mit demütiger Bescheidenheit, lässt sich immer wieder auf freundlichen Blickkontakt mit den Fans ein. Beim Bob-Dylan-Cover „The Wicked Messenger“ löst sich dann mit einem herzhaften Urschrei die sommerliche Beschaulichkeit, und von Pattis angekündigten Stimmunsicherheiten aufgrund der hohen Temperaturen ist nichts mehr zu bemerken. Den 25. Todestag des unvergessenen Allen Ginsberg zelebriert sie mit einer inbrünstigen Lesestunde seines Gedichts „Footnote To Howl“, das einwandfrei in ein mitreißendes „My Blakean Year“ übergeht, in dem Patti das erste Mal selbst eine Gitarre in die Hand nimmt. Gerade einmal ein Viertel des Sets ist vorüber und die Stimmung längst am Siedepunkt.

Highlights ohne Ende
Wie keine Zweite beherrscht sie das Wechselspiel zwischen getragener Zartheit (partiell etwa bei „Nine“) und explosiven Ausbrüchen wie beim mit repetitivem Refrain ausgestatteten „Free Money“. In der zweiten Sethälfte weiß man gar nicht mehr, was einen mehr beeindruckt. Ist es das instrumentale, mit viel Liebe in die Länge gezogene Duell zwischen Bassist Tony Shanahan und Gitarrist Jackson Smith, Pattis Sohn in „Beneath The Southern Cross“? Ist es das mit Rotz und Herzblut gesungene Iggy-Pop-Cover „I Wanna Be Your Dog“ von Smiths Gründungsmitglied, Lebensfreund und Gitarrist Lenny Kaye? Oder ist es doch Pattis atemberaubende, mit einer eindringlichen Stimme vorgetragene Soloperformance von Neil Youngs „After The Gold Rush“, das sogar die unverbesserlichen Dauerschwätzer nach den ersten Tönen zum Schweigen brachte?

Je länger das Konzert fortschreitet, umso mehr findet die freundliche Oma auf der Bühne ihren inneren Kobold wieder. Das Sakko fällt, die langen grauen Zöpfe wirbeln, der Mikroständer fliegt und beim kultigen Them-Cover „Gloria“ schlatzt sie nonchalant gleich mehrmals auf den Bühnenboden. Punk’s not dead, eh klar. Während zwei Tage zuvor Querkopf Van Morrison bei ebenjenem Song schon nach wenigen Sekunden die Bühne Richtung Hotel verließ, würde Patti ihre treuen Fans nie im Stich lassen. Als emotionalster Moment geht die Ankündigung für „Because The Night“ über die Bühne, als sich Patti an ihren bereits in den 90er-Jahren viel zu früh an einem Herzleiden verstorbenen „ewigen Freund und später Ehemann“ Fred „Sonic“ Smith erinnert. Den Kultsong „Pissing In A River“ widmet sie dem 2017 verstorbenen, langjährigen Viennale-Direktor Hans Hurch, einem engen Freund von Smith, der sie einst durch verschiedene Barrieren der bulgarischen Botschaft ins Haus Wittgenstein vorbeischummelte, wie sie in einer humorigen Anekdote erzählt.

Heute geht es weiter
Zweimal verpasst sie an diesem Abend den Gesangseinsatz und lächelt die Pannen genauso weg, wie Blixa Bargeld den ÖAMTC-Hubschrauber beim Gig der Einstürzenden Neubauten. Patti Smith ist mit sich und ihrer Welt im Reinen, auch wenn sie ganz allgemein dem Untergang geweiht scheint. Frei nach dem Motto „eine muss es ja tun“ erinnert sie uns zumindest einen Abend lang, dass sich die Dinge nicht von selbst regeln und auch im fröhlichen Musik-Eskapismus Zeit für Nachdenklichkeit und Reflektion bleiben muss. Zwischen den Zeilen lesen wir klar heraus: weniger reden, mehr tun. So wie es uns Patti immer vormacht. Etwa schon heute, wo sie noch einmal die Arena-Bühne entert und bei der „Nacht gegen Armut“ der Volkshilfe den Reinerlös des ganzen Konzerts armutsbetroffene Kinder in Österreich unterstützt. Ein Besuch zahlt sich in mehrfacher Hinsicht aus, denn „People Have The Power“. Zumindest noch manchmal im Kleinen…

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