Süchtiger packt aus:

„Welt brach zusammen, als Pornobelege auftauchten“

Digital
09.12.2020 13:39

Noch vor drei Jahrzehnten war Pornografie ein rares Gut, das im verborgenen - als Heftchen, VHS oder DVD - den Besitzer wechselte. Heute sind pornografische Inhalte einer der größten Traffic-Bringer im Internet, über einschlägige (Live-)Streaming-Seiten hat jeder User zu jeder Tages- und Nachtzeit Zugriff auf Millionen Bilder und Videos. Aber was macht diese ständige Verfügbarkeit mit den Konsumenten? Diese Frage beschäftigt nicht nur die User der Angebote, sondern spaltet auch die Wissenschaft.

„Meine Welt brach am 30. Juni 2018 zusammen, als meine Pornobelege entdeckt wurden“, sagt der Texaner Steve im Gespräch mit dem IT-Portal „CNET“. Er habe einen „obszönen Betrag“ für Online-Pornos, Abonnements und Camgirls ausgegeben - und seine Frau habe die Zahlungen beim Prüfen der Familienfinanzen entdeckt. Am Ende dieses Jahres war Steve geschieden, hatte keinen Job mehr und sah sich ruiniert.

Zwei bis drei Stunden pro Tag
Zwar habe er in jener Zeit auch zu viel Alkohol getrunken, die Schuld an seinem Abstieg gibt er aber seinem exzessiven Pornokonsum. An guten Tagen habe er zwei bis drei Stunden Pornos angesehen, andere Male habe er ganze Nachmittage an Pornografie verschwendet, wenn seine Frau und der Sohn gerade nicht in der Stadt waren. Der Texaner ließ sich zeitweise sogar krankschreiben, um sich den ganzen Tag Pornos ansehen zu können.

Steve ist der Meinung, er sei süchtig nach Online-Pornos gewesen und diese Sucht habe seine Beziehung und seinen beruflichen Erfolg zerstört. Er setzte sich selbst auf Entzug, heute ist er seit mehr als 800 Tagen „clean“. Hilfe fand er in Online-Foren, in denen sich Menschen treffen, die ähnliche Erlebnisse hatten wie er.

Wissenschaftler gespalten: Gibt es Pornosucht?
Aber gibt es so etwas wie Pornosucht tatsächlich? Psychologen, Suchtexperten und Sexualmediziner sind in dieser Frage gespalten. Die einen sind sicher, dass das Bombardement mit harter Pornografie, dem heutige Jugendliche im Netz ausgesetzt sind, nicht ohne Folgen sein kann. Die anderen glauben, übermäßiger Pornokonsum sei nicht per se eine Sucht nach solchen Clips, sondern habe oft tieferliegende Ursachen.

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Wie klassifizieren wir das? Wie behandeln wir es? Daran wird noch gearbeitet.

Shane Kraus, Suchtforscher der University of Nevada

Es ist eine auch innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft polarisierte Debatte. „Es gibt auf beiden Seiten wirklich passionierte Leute“, weiß Shane Kraus, Suchtforscher an der University of Nevada. Was man aber wisse sei, dass Pornografie eine schwierige Sache für viele Menschen sei. Aber: „Wie klassifizieren wir das? Wie behandeln wir es? Daran wird noch gearbeitet.“

Umfrage: 4,4 Prozent der Männer sehen sich als pornosüchtig
Kraus befürchtet, dass in dem wissenschaftlichen Vakuum immer mehr Menschen auf Basis von Fehlinformationen im Internet anfangen könnten, eine nicht existierende Suchterkrankung bei sich selbst zu diagnostizieren. Tatsächlich zeigen Umfragen, dass sich ein Teil der Konsumenten von Online-Pornos selbst als süchtig definieren würde: 4,4 Prozent der Männer und 1,2 Prozent der Frauen gaben in einer australischen Umfrage an, sich als süchtig zu betrachten.

Selbsthilfegruppen finden regen Zulauf
Selbsthilfegruppen im Netz haben Hunderttausende Mitglieder. Im Online-Forum Reddit etwa gibt es eine Gruppe namens „NoFap“, die 725.000 Mitglieder hat und den Kampf gegen Pornosucht durch Enthaltsamkeit propagiert. Quasi einen „kalten Entzug“, den auch der eingangs beschriebene Steve gewählt hat. In der Szene, der mitnichten nur Männer angehören, spricht man vom „Reboot“. Die Dauer dieses „Reboots“ liegt meist bei rund drei Monaten - in manchen Fällen auch bei sechs.

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Der flächendeckende Gebrauch von Internet-Pornos ist eines der am schnellsten voranschreitenden globalen Experimente, die jemals unbewusst durchgeführt wurden.

Gary Wilson bei TED

Tatsächlich glauben manche Beobachter, dass der Konsum von Online-Pornos Auswirkungen auf die Vorgänge im menschlichen Gehirn haben könnte. So etwa der ehemalige Naturwissenschaftslehrer Gary Wilson, der 2012 bei der Vortragsreihe „TED“ erklärte: „Der flächendeckende Gebrauch von Internet-Pornos ist eines der am schnellsten voranschreitenden globalen Experimente, die jemals unbewusst durchgeführt wurden.“ Das führe unter anderem zu einer Welle von Potenzstörungen bei jungen Männern.

Wilson ist zwar nicht in der Forschung tätig, untermauert seine Ausführungen aber mit rund 400 Studien und Literaturverweisen, hat sich also durchaus mit dem Thema beschäftigt. Kritiker bemängeln hier, dass bei den zitierten Studien mitunter zu kleine Stichproben zum Einsatz kamen, die Methodik also zumindest fragwürdig sei. Hinzu kommt, dass sogar manche Autoren solcher Studien zur Vorsicht bei der Interpretation ihrer Ergebnisse mahnen.

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Es wäre grundlegend falsch, zu sagen, dass es ganz sicher von Pornografie verursacht wird. Es ist aber korrekt, wenn man sagt, dass Pornografie einen gewissen Einfluss hat.

Gunter De Win, Urologieprofessor

Gunter De Win, ein belgischer Urologieprofessor, berichtet nach einer Studie an 5800 Männern unter 35 von einer interessanten Beobachtung: In seiner Studie berichteten am ehesten jene Männer von erektiler Dysfunktion, die sich selbst auch als Pornosüchtige klassifizierten. Andere Probanden, die teils deutlich mehr Pornografie als die in ihrer Selbstwahrnehmung süchtigen Testpersonen konsumierten, das aber nicht als problematisch sahen, hatten weniger Probleme. Auch die Frage, was als Potenzstörung definiert wird, variiere von Teilnehmer zu Teilnehmer. De Win: „Es wäre grundlegend falsch, zu sagen, dass es ganz sicher von Pornografie verursacht wird. Es ist aber korrekt, wenn man sagt, dass Pornografie einen gewissen Einfluss hat.“

Pornosucht geht oft mit Depressionen einher
Nicole Prause, Neurowissenschaftlerin und Sexualforscherin an der University of Indiana: „Ich zweifle nicht daran, dass manche Menschen Probleme haben, wenn sie zu viel Pornografie schauen. Aber die Sache ist, dass da oft eine Menge anderer Probleme sind, die dieses Verhalten erklären und dafür verantwortlich sind.“ Sie spreche beispielsweise Depressionen an. Jeder zweite Patient, der sich wegen angeblicher Pornosucht in Behandlung begebe, habe vorher  die Diagnose Depressionen erhalten.

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Wenn sich das Gehirn mal nicht mehr ändert, läuft etwas falsch. Dann liegen Sie nämlich im Koma.

Nicole Prause, Neurowissenschaftlerin

Das lege nahe, dass die vermeintliche Sucht in Wahrheit ein von den Depressionen ausgelöstes Zwangsverhalten sei, das dem Patienten helfe, mit den Depressionen klarzukommen. Von Pornografie direkt ausgelösten Veränderungen im Gehirn steht die Wissenschaftlerin skeptisch gegenüber. Das Hirn verändere sich nämlich die ganze Zeit. „Wenn sich das Gehirn mal nicht mehr ändert, läuft etwas falsch. Dann liegen Sie nämlich im Koma.“

Verhärtete Fronten in der Wissenschaft
Überhaupt sind die Fronten verhärtet: Befürworter der Theorie, Online-Pornos würden süchtig machen, diskreditieren Gegner und diese diskreditieren die Befürworter. Prause und Wilson gerieten sich sogar dermaßen in die Haare, dass ihre Meinungsverschiedenheiten am Ende vor Gericht landeten: Beide warfen sich Stalking, Beleidigung und Drohung vor.

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Wir müssen offen sein, interdisziplinär forschen, unser Ego beiseite stellen und gemeinsam den Forschungsgegenstand betrachten.

Gunter De Win, Urologieprofessor

Urologe De Win mahnt daher zur Besonnenheit. „Wir müssen offen sein, interdisziplinär forschen, unser Ego beiseite stellen und gemeinsam den Forschungsgegenstand betrachten.“ Auch Suchtforscher Kraus ruft zur Mäßigung auf. Derzeit habe man Hinweise darauf, dass die permanent verfügbare Online-Pornografie für manche Personen problematisch sein könne. Man wisse aber nicht, für wen und wie man das erkenne. „Wir brauchen noch Hunderte von Studien, um das wirklich zeigen zu können.“

Von der Porno- in die Fitness-Sucht
Steve, der Betroffene, hat sich seine Meinung bereits gebildet. Zwar räumt auch er ein, bereits vor Beginn seines übermäßigen Pornokonsums psychiatrische Behandlung wegen sexuellen Missbrauchs in seiner Kindheit in Anspruch genommen zu haben. Er glaubt aber auch, dass Fälle wie der seine nur der Anfang eines rapide wachsenden Problems sind.

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Ich sage Ihnen, da kommt eine Flut auf uns zu!

Steve, ehemaliger Pornosüchtiger

„Es gibt eine Gruppe von Menschen, die damit aufgewachsen sind, von klein auf uneingeschränkten Hochgeschwindigkeitszugang zu Pornografie zu haben. Ich sage Ihnen, da kommt eine Flut auf uns zu!“ Er habe indes durch seine Abhängigkeiten zugetane Persönlichkeit wieder eine neue Sucht entwickelt, die ihm aber ganz guttue. Er sei nun „süchtig nach Fitness“.

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