Autor Robert Schneider traf einen seiner alten Bekannten wieder. Jenen Komponisten, der die Musik zum Film „Schlafes Bruder“ schrieb: Enjott Schneider.
Er hat die Filmmusik zu „Schlafes Bruder“ komponiert. Er war es, der den Regisseur Joseph Vilsmaier (1929 – 2020) von Pune (Indien) aus anrief und auf das Buch aufmerksam machte. Vilsmaier wollte ursprünglich ein anderes Filmprojekt realisieren, aber Enjott Schneider blieb beharrlich. Wenn er nämlich von einer Idee überzeugt ist, setzt er sie auch um. Nach dreißig Jahren haben wir uns in Gaschurn im Montafon zum Gespräch wiedergetroffen, wo der Roman verfilmt worden ist. Aber wir wollten nicht alte Zeiten hochleben lassen, sondern darüber reden, was ihn musikalisch antreibt und ob Musik überhaupt noch einen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat.
Geboren wurde Enjott Schneider 1950 in Weil am Rhein. „Ich komme aus einer sozial sehr tiefen Schicht und überdies aus einer kaputten Kriegsgeneration“, sagt er. Dennoch hat er Geige, Klavier, Akkordeon, Trompete und Orgel gelernt, an der Musikhochschule Freiburg studiert und sich zum Dr. phil. promoviert. Neben dem Komponieren in praktisch allen Musikgenres war ihm das Unterrichten ein Leben lang Herzensanliegen. Neben einer Professur an der Hochschule für Musik und Theater München wirkte er auch als Dozent für Neue Musik an der Hochschule für Katholische Kirchenmusik in Regensburg. Er ist Gründungsmitglied der Deutschen Filmakademie, war Aufsichtsrat der GEMA und ab 2013 Präsident des Deutschen Komponistenverbands.
Robert Schneider: Enjott, gibt es für dich ein musikalisches Erweckungserlebnis?
Enjott Schneider: In der ersten Klasse gab es ein wunderschönes Mädchen aus besseren Verhältnissen, ein Engel aus einer anderen Welt, und das hat Akkordeon gespielt. Da habe ich auch mit Akkordeon angefangen. Aber das eigentliche Erweckungserlebnis war der „Freischütz“, den ich mit 14 Jahren in Freiburg gesehen habe. Da war alles drin: Wald, Mythos, Teufel, Religion, einfach alles. Ab dem Moment war für mich klar, dass ich klassischer Musiker werden musste. Ich wollte Geschichten erzählen durch die Musik. Möglichst mystische und geheimnisvolle. Ennio Morricone, mit dem ich viele Jahre befreundet war, ist lustigerweise auch durch den „Freischütz“ zur Musik gekommen. Übrigens auch der bekannte Komponist Jörg Widmann, wie er mir unlängst selbst erzählt hat. Die Aufgabe der Kunst besteht darin, die Leute in eine andere Welt zu verführen, sie aus dem Alltag herauszuholen. Meine Definition lautet: Kunst ist Entgrenzung. Wir leben wie Würmer in der Erde, aber unser Schicksal müsste der Höhenflug sein. Dante hat das einmal so schön im „Purgatorio“ formuliert: „Wir sind Würmer, doch geboren, um ein himmlischer Schmetterling zu werden.“ Die Kunst ist das schönste Mittel, um ein Schmetterling zu werden.
Wie kamst du schließlich zum Film?
Ich bin jemand, der sich über optische Reize musikalisch inspirieren lässt. Wenn ich komponiere, lade ich mich sozusagen über Bilder auf, weshalb ich auf meinen vielen Reisen so gern ins Museum gehe. Also lag das Medium Film sozusagen auf der Hand.
Du bist ein Komponist, der sich nicht in ein Genre einordnen lässt, lehnst die Trennung zwischen „Ernster Musik“ und „Unterhaltungsmusik“ kategorisch ab. Aber in den Köpfen gibt es immer noch „E“ und „U“. Warum ist das so?
Deutschland ist das einzige Land weltweit, das diesen Unterschied macht. Das hängt mit dem deutschen Idealismus zusammen. Oben Geist, unten Pfui. Wir sind das Volk der Dichter und Denker. Waren es zumindest einmal. „E“ ist Hochkultur, alles, was drunter ist, Tiefkultur. Das ist das deutsche Dilemma. Aber das geht einfach nicht mehr. In Wirklichkeit bedingt sich beides. Oft passieren gerade in der sogenannten Subkultur die tollsten und aufregendsten Sachen.
Nun gibt es aber den Unterschied zwischen kognitivem und emotionalem Hören. Oder kann das gar nicht getrennt werden?
Da möchte ich etwas ausholen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, nach der totalen Katastrophe, teilte der Philosoph Theodor W. Adorno die Musikrezeption in analytisch und emotional ein. Er fällte übrigens fürchterliche Fehlurteile, indem er z. B. den Jazz verdammte. Da hat er ganz üble Sachen geschrieben. Auch Bartok und Strawinski waren für ihn Barbaren in der Musik. Adorno hat noch das Klischee befeuert, Kopf gegen Emotion auszuspielen. Verstand gegen Herz. Das ging wie eine Keule durch die Gesellschaft. Der Begriff „New Complexity“ wurde das Stichwort. Alles musste unheimlich kompliziert sein. Es wurde nur noch gezählt in der Musik. Also sind die Leute geflohen. Einerseits in die Alte Musik, in wunderschöne, tonale Harmonien, andererseits hin zum Schlager, zum Song, zur Popmusik. Heute ist zum Glück ein ganz neues Empfinden da. Nicht nur in der Musik, auch in der gesamten Auffassung des Lebens. Die Menschen beginnen, wieder ganzheitlich zu denken.
Filmmusik ist ein Genre dazwischen. Da gibt es diese Unterscheidung wohl nicht. Bist du deshalb in die Filmmusik „geflüchtet“?
Genau. Das war mein Trick für den „Between“, den Weg dazwischen. Filmmusik ist seriöse, ernsthafte Musik zwischen den Stühlen – genau mein Ding.
Du bist einer der erfolgreichsten deutschen Film- und Fernsehkomponisten. Gab es in deinem Leben nicht auch einen Punkt, wo du nicht mehr weiterwusstest?
Ich erinnere mich noch genau: Am 6. Juni 1987 hatte ich ein Out-of-body-Erlebnis. Ich lag im Bett, und plötzlich war die Welt weg. Ich habe versucht, an die Wand zu drücken, aber es gab da keine Wand. Das kam fast einer Nahtoderfahrung gleich. Dieses Erlebnis hat mich völlig umgekrempelt. Ich fing an, in meiner so materiellen Welt die Perspektive des Immateriellen zu suchen. Las Laotse, C. G. Jung, beschäftigte mich mit jüdischer Mystik, dem Buddhismus, mit Reinkarnation. Das waren damals noch Tabuthemen. In mir reifte die Theorie, dass alle Musik, die zu Gott führt – das darf man ja auch nicht mehr sagen -, jedenfalls in die immaterielle Welt, aus langen Tönen besteht. Sei es in den Organas der Notre-Dame-Epoche, in den monumentalen Orgelpunkten einer Bruckner-Sinfonie, aber auch bei den Aborigines oder in der armenischen Musik. Durch lange Töne kommt der Mensch in Resonanz mit sich selbst und dadurch mit dem Universum.
Ich erinnere mich genau: Am 6. Juni 1987 hatte ich ein Out-of-body-Erlebnis. Ich lag im Bett, und plötzlich war die Welt weg.
Enjott Schneider
Eine Frage zum Schluss. Kann der Musikbetrieb, wie wir ihn kennen, überhaupt noch weiterbestehen? Wiederholen wir uns nicht fortlaufend im Hinblick auf das klassische Repertoire?
Es gibt keine Wiederholung. Man kann nicht in dasselbe Wasser eines Flusses steigen. Auch wenn der Sänger des Rigoletto die Partie schon vierzig Mal gesungen hat, weiß er nicht, wie es heute Abend sein wird. Künstler sein heißt, den absoluten Gegenwartspunkt erleben. Es gibt nur das Jetzt.
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