Peter Pirker, Dozent am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck, gab der „Kronen Zeitung“ Antworten auf Fragen zum Kriegsende und den Tagen danach in Tirol. „Lange verdrängt wurden Opfergruppen, die nach 1945 im Schatten einer übertriebenen Widerstandsgeschichte standen.“
„Krone“: Gab es den einen offiziellen Moment des Kriegsendes in Tirol?
Peter Pirker: Ja, am Nachmittag des 5. Mai 1945 erklärte General Friedrich Brandenberger im „Gauhaus“ in Innsbruck (heute Landhaus) gegenüber dem US-General Edward Brooks die bedingungslose Kapitulation der 19. Armee der Wehrmacht, die in Tirol gegen die US-Truppen gekämpft hatte.
Wie erlebte die Bevölkerung die Wochen nach dem Einmarsch der Alliierten? Gab es mehr Erleichterung, Angst oder Unsicherheit?
Das lässt sich pauschal nicht beantworten. Zur Bevölkerung Tirols sind die tausenden Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zu zählen, die das NS-Regime aus ganz Europa nach Tirol verbracht hatte. Für sie, die politischen Häftlinge, die Häftlinge im Gestapo-Lager Reichenau brachte der Einmarsch der US-Truppen die Befreiung von Terror und Gewalt. Für Nationalsozialisten brach eine Zeit der Ungewissheit an. Fotos von Wehrmachtssoldaten zeigen Erleichterung, dass der Krieg vorbei ist.
Die Bombenschäden waren in Tirol verglichen mit Deutschland gering. In Innsbruck war nach US-Quellen etwa zehn Prozent der Stadtfläche zum Teil beschädigt, aber nicht komplett zerstört.
Peter Pirker
Wie wirkte sich die Besatzung der Amerikaner auf den Wiederaufbau aus?Oberste Priorität hatte die Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung. Die Bombenschäden waren in Tirol verglichen mit Deutschland gering. In Innsbruck war nach US-Quellen etwa zehn Prozent der Stadtfläche zum Teil beschädigt, aber nicht komplett zerstört. Stark betroffen war der Hauptbahnhof. Die US-Armee begann sofort mit der Beseitigung von Bombenschäden und der Instandsetzung der Eisenbahnlinien.
Wie ging es mit der Entnazifizierung voran?
Die amerikanische Militärregierung setzte zunächst ihr Gewaltmonopol durch, entfernte die lokalen Nazis aus den Ämtern und ersetzte sie durch NS-Gegner. In den ersten vier Wochen wurden allein im Zentralraum um Innsbruck 430 politische Festnahmen durchgeführt, darunter 60 Beamte der Gestapo, des Sicherheitsdienstes und der Abwehr, zwei Gauleiter, sieben Kreisleiter, 49 Ortsgruppenleiter, 60 weitere NSDAP-Funktionäre, 102 SS-Offiziere und 14 Regierungsbeamte.
Wesentliche Beiträge zur gewaltfreien Einnahme von Innsbruck leisteten die Männer und Frauen der Operation Greenup.
Peter Pirker
Wer waren nennenswerte Akteure in der damaligen Zeit?
Die Befreiung vom Nationalsozialismus führten die Soldaten der drei US-Divisionen durch, die im Mai 1945 zum Teil noch beträchtliche Abwehrstellungen (vor allem am Fernpass) überwinden mussten. Wesentliche Beiträge zur gewaltfreien Einnahme von Innsbruck leisteten die Männer und Frauen der Operation Greenup unter der Leitung von Fred Mayer, aber auch lokale NS-Gegner und Deserteure, in Innsbruck Karl Gruber und Ludwig Steiner, am Fernpass war es der deutsche Deserteur Max Wenk, der die US-Truppen in den Rücken der Abwehrstellung der Wehrmacht führte und so weitere Kämpfe verhinderte.
Welche Aspekte der NS-Zeit wurden lange verdrängt?
Lange verdrängt wurden Opfergruppen, die nach 1945 im Schatten einer übertriebenen Widerstandsgeschichte standen: die antisemitisch und rassistisch Verfolgten, der Massenmord an den Patienten der Psychiatrie, die Ausbeutung und Repression der Zwangsarbeiter und die Verfolgung von Personen, die weiterhin diskriminiert wurden, etwa Homosexuelle, aber auch sozial randständige Personen, die als „asozial“ eingestuft wurden oder aus jenischen Familien stammten. Auch die Deserteure wurden über Jahrzehnte hinweg abfällig behandelt, obwohl sie sich der Kriegspolitik der Nazis widersetzt hatten. In den vergangenen Jahren ist in Tirol viel zur Aufarbeitung der NS-Gewalt geschehen, es ist freilich noch einiges zu tun.
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