"Fetzenliteratur"

D: Rechtschreibrat schlägt wegen Twitter Alarm

Web
02.01.2012 10:20
Verknappte Sätze auf Twitter oder in SMS bedrohen nach Ansicht des Rechtschreibrats-Vorsitzenden Hans Zehetmair zunehmend die Sprachkompetenz junger Leute. "Eine junge Generation schreibt heute - um eine Liebe zum Ausdruck zu bringen - keine Briefe mehr, sondern 'HDL' - 'Hab Dich lieb'", bemängelt Zehetmair diese "Fetzenliteratur" im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. In Frankreich versucht man indes, Schülern mittels Twitter den Spaß am Lesen zu vermitteln.

"Wir sind weltweit in zivilisatorischen Gesellschaften auf dem gefährlichen Weg, dass immer weniger gelesen, immer mehr Fetzenliteratur gepflegt, immer weniger geschrieben wird", kritisiert Zehetmair. Auch die Schule komme ihrem Bildungsauftrag in dem Bereich nur begrenzt nach. "Die Lehrer sind auch Kinder unserer Zeit und - bei allem guten Bemühen - gibt es auch bei ihnen oft diese Fetzenliteratur: super, geil und alles mit Ausrufezeichen."

Hochschullehrer beklagten dem Rechtschreibexperten zufolge immer wieder die mangelhafte sprachliche Qualität von Diplom-, Magister- oder Bachelorarbeiten. "Man nimmt sich kaum noch die Zeit, ganze Sätze zu formulieren." Nach Angaben von Linguisten müssten rund 20 Prozent der 15-Jährigen heute als Analphabeten bezeichnet werden, so Zehetmair.

Lesenlernen mit Twitter
Doch die kurzen Botschaften auf Twitter haben auch ihr Gutes, wie man in einer Privatschule im nordfranzösischen Seclin glaubt. Zwar sind die Siebenjährigen dort auch nicht lesefreudiger als anderswo, doch die Kinder dürfen aus dem Kurznachrichtendienst vorlesen, und den finden sie "cooler" als ihre herkömmlichen Lernbücher. "Auf Twitter gibt es Bild und Ton, doch das mindert das Interesse an der Schrift nicht, im Gegenteil", sagt die Lehrerin Céline Lamare zu ihren Erfahrungen.

Seit September setzt die junge Frau die Kurznachrichten von maximal 140 Zeichen, die sogenannten "Tweets", in ihrem Leseunterricht ein. Statt morgens wie in anderen Schulen die schwarze Tafel aufzuklappen, schaltet sie eine Art Riesenbildschirm an, auf dem in Großformat die Mitteilungen anderer Klassen in Frankreich, Belgien und Kanada erscheinen.

Die Schüler in Seclin verfassen dann kurze Antworten auf die Botschaften, die sie erst in ihr Heft schreiben müssen und die dann korrigiert werden. "Die 140 Zeichen bei Twitter passen gut zu ihrer Lernstufe", sagt die Lehrerin. Außerdem zwinge der Kurznachrichtendienst die Kinder, an ihre "Leser" zu denken und gebe so der Übung zusätzlichen Sinn.

Bereits mit Computer vertraut
Da die Kinder sowieso mit dem Computer aufwachsen, lenkt der Bildschirm nach Ansicht von Lehrerin Lamare auch nicht vom Lernen ab. Im Gegenteil: "Wenn sie keinen Bildschirm vor sich haben, hören sie nicht zu." Ihre Schüler sind so sehr mit dem Computer vertraut, dass sie von sich aus Fotos auf einen USB-Stick laden und in die Schule mitbringen, um sie über Twitter zu verschicken.

Auch die Eltern stehen dem Projekt der Lehrerin zufolge positiv gegenüber. Anfangs seien sie noch skeptisch gewesen, was die Vertraulichkeit der sozialen Netzwerke angeht. Inzwischen aber "reden sie nur noch über den Spaß, den die Kinder damit in der Schule haben".

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