Fall gibt Rätsel auf

27 Jahre eingesperrt – Frau kehrt trotzdem zurück

Ausland
18.10.2025 12:45

Der Fall der Polin Mirella (42) bewegt zutiefst, gibt aber auch viele Rätsel auf. 27 Jahre lang wurde sie von ihren Eltern – unter katastrophalen Umständen – in ihrem Kinderzimmer eingesperrt. Für die Außenwelt existierte sie nicht. Was sich über die vielen Jahre wirklich hinter den verschlossenen Türen abgespielt hatte, darüber schweigt die Familie. Grotesk: Mittlerweile lebt die 42-Jährige wieder in ihrem Elternhaus.

Seit ihrem 15. Lebensjahr galt die heute 42-jährige Mirella als vermisst. Erst Ende Juli wurde sie aus ihrem kleinen Kinderzimmer in Świętochłowice befreit, in dem sie 27 Jahre isoliert von der Außenwelt unter katastrophalen Bedingungen gelebt haben soll. Laut übereinstimmenden Berichten polnischer Medien besaß Mirella nicht einmal einen Ausweis. Warum sie all die Jahre das Elternhaus nie verlassen hatte (oder durfte), ist bislang völlig unklar.

Polizei findet eingesperrte Frau durch einen Zufall
Ende Juli wurden Polizeibeamte zum Elternhaus gerufen, nachdem Nachbarn laute Schreie gehört hatten. Am Einsatzort trafen die Beamten auf eine 81-jährige Frau, die ihnen erklärte, es habe sich lediglich um einen Streit mit ihrem Ehemann gehandelt. Allerdings war der Mann zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause.

Schwere Infektionen an den Beinen
Während des Polizeieinsatzes bemerkten die Polizisten, dass sich auch die 42-jährige Tochter des Ehepaars in der Wohnung aufhielt. Die Frau erklärte, es sei alles in Ordnung und sie benötige keine Hilfe. Doch die Beamten bemerkten deutliche Schwellungen an ihren Beinen und Schwierigkeiten beim Gehen. Daraufhin wurden Rettungskräfte gerufen, die schließlich entschieden, die Frau in ein Krankenhaus zu bringen. Die Wunden an ihren Beinen waren so schwer infiziert, dass sie wohl wenig später gestorben wäre, wenn sie nicht im Krankenhaus behandelt worden wäre.

42-Jährige nicht gegen ihren Willen festgehalten?
Am Dienstag teilten die Ermittler allerdings mit, dass die bisherigen Erkenntnisse keinen Grund zu der Annahme geben, dass die 42-Jährige gegen ihren Willen festgehalten wurde. Es wurden auch keine Anhaltspunkte für die Einleitung eines Blue-Card-Verfahrens gefunden, das bei Verdacht auf häusliche Gewalt eingeleitet wird.

Inzwischen ist sie wieder an denselben Ort zurückgekehrt, obwohl ihr die Ärzte empfohlen hatten, noch länger in medizinischer und psychiatrischer Betreuung zu bleiben. Ein Team der polnischen Boulevardzeitung „Fakt” besuchte sie unlängst in ihrem Elternhaus.

Zeitung besuchte Mutter und Tochter
Die Wohnung, in der Mirella die letzten 27 Jahre verbracht hatte, hat zwei Zimmer. In einem davon fanden die Reporter Mirella auf dem Sofa vor. Ihre Mutter bat die Reporter herein, ließ aber ihre Tochter nicht zu Wort kommen.  Der Vater befand sich zu dem Zeitpunkt offensichtlich nicht im Haus. Um ihre Behandlungen, die Rehabilitation und den Neuanfang zu finanzieren, wurde eine öffentliche Spendenaktion für Mirella ins Leben gerufen. Doch ihre Mutter betonte im Gespräch, dass die Familie weder Geld noch Sachspenden benötige: „Ich bin am Boden zerstört, ich überlebe das nicht ... Wozu brauchen wir Kleidung, Jacken, was die Leute jetzt bringen?“

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Ich bin am Boden zerstört, ich überlebe das nicht ... Wozu brauchen wir Kleidung, Jacken, was die Leute jetzt bringen?“

Mirellas Mutter

Mutter über Tochter: „Sie ist jetzt verwirrt“ 
Die Mutter erzählte zudem, dass sie mit ihrer Tochter einmal zu Freunden auf deren Grundstück gegangen seien. Sie könne jedoch nicht sagen, wann das war. Als die Reporter Mirella dieselbe Frage stellten, antwortete sie: „Oh je, vor einiger Zeit, ich weiß es nicht mehr. Ich bin schon lange nicht mehr ausgegangen, ich kann mich nicht daran erinnern.” Ihre Mutter erklärte schnell: „Sie ist jetzt verwirrt, weil sie in diesem Krankenhaus festgehalten wurde.“

Hier wird Mirella von Polizeibeamten zu einem Krankenwagen gebracht.
Hier wird Mirella von Polizeibeamten zu einem Krankenwagen gebracht.(Bild: pomagam.pl)

Als die Reporter fragten, warum Mirella nicht einmal einen Personalausweis habe, meldete sich ihre Mutter erneut zu Wort: „Ich wollte alles für sie erledigen, den Antrag ausfüllen. Ich kann gut schreiben, aber sie hat sich verklemmt und das war‘s dann. Ich weiß selbst nicht, warum.“

Für das System existierte Mirella bis dato nicht
Der Antrag auf einen Personalausweis für sie wurde erst jetzt gestellt, als die Sache ans Licht kam. Für das System existierte Mirella bis dato nicht. Sie hat keine Sozialrente und keine Mittel zum Lebensunterhalt. „Ich habe eine Rente und mein Mann auch, wir wollen keine Hilfe“, warf Mirellas Mutter erneut ein. 

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Ich habe eine Rente und mein Mann auch, wir wollen keine Hilfe.

Mirellas Mutter

Die Zeitung berichtete, dass über Mirellas Bett noch immer Spielsachen aus ihrer Kindheit stehen. Ein paar Plüschtiere, einige Bücher. „Ich werde diese Spielsachen wegwerfen, aber ich bin noch nicht so weit“, versicherte ihre Mutter.

Kampagne: „Müssen ihr helfen, wieder zur Normalität zurückzufinden“
„Das ist alles so unfassbar“, betonte Aleksandra Salbert (35), die zusammen mit ihren Freundinnen eine Spendenaktion für Mirella auf dem Portal pomagam.pl organisiert hat. „Wir müssen ihr helfen, wieder zur Normalität zurückzufinden, ihr verlorenes Leben zurückzugewinnen“.

Die Organisatoren der Spendenkampagne schrieben auf der Website: „Mirella selbst sagt, dass sie nie erleben konnte, wie sich ihre Stadt entwickelt hat, dass sie in allem zurückgeblieben sei und so vieles verpasst habe. Sie war nie bei einem Arzt, hat nie einen Personalausweis beantragt, ist nie einfach spazieren gegangen oder auch nur auf den Balkon getreten. Auch einen Zahnarzt oder Friseur hat sie nie gesehen. Der Zustand ihrer Haare und Zähne ist kritisch. Die maroden Zähne gefährden sogar ihre Gesundheit, weshalb dringend Behandlungen in einer Privatpraxis notwendig sind.“

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Sie war nie bei einem Arzt, hat nie einen Personalausweis beantragt, ist nie einfach spazieren gegangen oder auch nur auf den Balkon getreten.

Die Organisatoren der Spendenkampagne für Mirella

Im Interview mit „Fakt“ erzählten die Initiatoren zudem, dass Mirella sehr intelligent sei und trotz allem, was ihr passiert ist, viele Träume habe. „Sie ist sehr kontaktfreudig und neugierig auf die Welt“, heißt es auch in dem Spendenaufruf.

Nachbarn schockiert: „Mutter erzählte mir, Mirella sei entführt worden“
Auch die Nachbarn, mit denen die Zeitung sprechen konnte, stehen unter Schock. Sie erinnern sich an Mirella als hübsche 15-Jährige. „Sie war höflich und sehr hübsch. Vor Jahren, als Mirella noch zur Schule ging, fragten ihre Eltern, ob meine Tochter ihr Nachhilfeunterricht geben könnte, aber dann wurde es still um die Sache”, erzählte Urszula Knapczyk (83). Und fügte hinzu: „Ich erinnere mich noch gut daran, wie ihre Mutter mir vor fast 30 Jahren erzählte, dass Mirella verschwunden sei. Angeblich sollte sie jemand entführt haben. Das war ein Schock, aber was sollten wir tun, sie haben nicht damit geprahlt. Einmal traf ich sogar ihren Vater und fragte ihn, was mit Mirella sei. Ich dachte, vielleicht sei sie wieder aufgetaucht, und er sagte mir: ,Ihre Tochter ist ja auch nicht zu sehen.‘ Ich habe das Thema dann nicht weiter angesprochen.“ 

Schule bestätigt Streichung aus Liste 1998
Das Kochanowski-Gymnasium bestätigte der Zeitung, dass Mirella weniger als ein halbes Semester lang diese Schule besucht hatte. „Im Schülerverzeichnis haben wir einen Eintrag gefunden, dass diese Person tatsächlich unsere Schule besucht hat. Sie begann ihre Ausbildung am 1. September 1997 und wurde am 6. Jänner 1998 aus der Schülerliste gestrichen. In der Notiz wurde hinzugefügt: ,Auf Wunsch der Eltern gestrichen‘“, verriet Direktorin Jolanta Daniluk.

Die Direktorin fügte hinzu, dass es damals noch nicht so strenge Vorschriften gab wie heute. 1997 bestand die Schulpflicht in Polen darin, acht Klassen der Grundschule zu absolvieren. „Ich war damals nicht Direktorin dieser Schule und kann nicht sagen, was genau passiert ist.“ Die Direktorin räumte auch ein, dass die Eltern die Unterlagen mitnehmen mussten und sich niemand dafür interessierte, ob das Mädchen ihre Ausbildung fortsetzte.

Der Fall wird vom Sozialamt und der Polizei untersucht
Der Fall Mirella wird mittlerweile vom Sozialamt in Świętochłowice und der Polizei untersucht. „Der Fall ist besonders heikel, und seine vollständige Aufklärung erfordert Zeit und die Zusammenarbeit vieler Institutionen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es nicht möglich, eindeutige Bewertungen abzugeben oder öffentlich über den Verlauf der Ereignisse zu urteilen”, teilte Monika Szpoczek, Direktorin des Sozialamtes, mit. Noch sind also viele Fragen offen – für Mirella aber bricht nun ein neuer Lebensabschnitt an ...

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