Umstrittenster Rekord

„Ihr Körper war eine pure Provokation“

Sport-Mix
26.07.2023 10:44

Auf der ursprünglichen Starterliste für jenen denkwürdigen 800-m-Lauf der Frauen fehlte nachmittags am 26. Juli 1983 noch der entscheidende Name. Jarmila Kratochvílová wurde erst später handschriftlich hinzugefügt. Auf Wunsch des tschechoslowakischen Leichtathletik-Verbandes wurde die 400-m-Spezialistin nachträglich genannt. Es sollte für die 32-Jährige nur ein Testlauf für die zwei Wochen später stattfindende WM in Helsinki sein. Der Probegalopp ging auf. Jarmila Kratochvílová stürmte in 1:53,28 zu einem Fabel-Weltrekord. Das Magazin „SPORTS“ urteilte 1983: „Ihr Körper war pure Provokation. Kann eine Frau solche Muskeln haben?“

Seit 40 Jahren ist diese Marke der älteste Weltrekord der Leichtathletik, gleichzeitig auch ein Mahnmal aus den dopingbelasteten 80er-Jahren. Ein Weltrekord, der immer wieder (mehr oder wenig deutlich) angezweifelt wurde.

60 Meter Vorsprung
Mit 60 m Vorsprung gewann die Tschechoslowakin damals beim „Internationalen Münchner Olympiapark-Leichtathletikmeeting“ das um 20.55 Uhr angesetzte 800-m-Rennen, ausgelobt mit dem „Ehrenpreis des Bayerischen Reisebüros ABR.“ „Kurz vor dem Ziel dachte ich, die Uhr ist kaputt“, erinnert sich Jarmila Kratochvílová. Die Zeitnehmung aber war korrekt. Schließlich leuchteten 1:53,28 auf der Anzeige links hinter dem Ziel für sie auf. Unfassbar. Damals wie heute.

 Bei 400 m wurde die CSSR-Athletin in 56,82 Sekunden gestoppt, war dann schon allein auf weiter Flur. Die folgende Runde absolvierte sie in 56,46. Ihre Zwischenzeiten lauteten: 500 m 1:11,4, 600 m 1:25,5 und 700 m 1:39,5. Die 32-Jährige verbesserte den bestehenden Weltrekord aber nicht um einen Quantensprung, sondern „nur“ um 15 Hundertstel. Sie löschte jene schon angezweifelte 1:53,43 Minuten, die Nadezhda Olizarenko bei ihrem Olympiasieg für die UdSSR in Moskau am 27. Juli 1980 aufgestellt hatte. Drei Jahre später ging es noch einen Tick schneller. Wie man vor 40 Jahren abends in der „Sportschau“ sehen konnte, noch heute ist dieses Video vom 800-m-Weltrekord auf „YouTube“ ein Renner.

Untergriffige Vorwürfe
Der Kommentator war verständlicherweise perplex. Bei der Wiederholung des Zieleinlaufs konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen. Jarmila Kratochvílová laufe „kraftvoll“. „Manche werden sagen, zu kraftvoll.“ Zum Fabel-Weltrekord meinte er: „Aber in der Geschichte der Leichtathletik wird auch niemand mehr danach fragen, wer diese Frau in Persona gewesen ist.“ Nun, da lag er falsch. Was kein Wunder ist. Es war nicht vorhersehbar, welche Diskussionen dieser Weltrekord in den nachfolgenden 40 Jahren ausgelöst hat.

Bei jedem Jubiläum der am 26. Jänner 1951 im 100 km südöstlich von Prag gelegenen Golčův Jeníkov geborenen Athletin tauchten ellenlange Rückblicke auf. Das war 10, 20, 25, 30 und jetzt 40 Jahre nach dem Fabel-Weltrekord wie zudem bei all ihren „runden“ Geburtstagen der Fall. Nicht immer wurde festgehalten, dass sie nie des Dopings überführt wurde oder gar einen Doping-Missbrauch selbst eingestanden hätte. Klischees ziehen sich wie ein roter Faden durch die Berichte der vergangenen vier Jahrzehnte. Die 80er-Jahre wären, so hieß es untergriffig, die Zeit gewesen, in der Sportlerinnen „täglich zum Rasierapperat greifen mussten“, eine Ära, als „morgens, mittags und abends Anabolika“ verabreicht wurde.

„Der letzte Panzer“
Bis heute muss Jarmila Kratochvílová mit direkten oder unterschwelligen Dopingwürfen leben. Die Zweifel sind schließlich stark. Der Verdacht eines Anabolika-Dopings ist nicht auszuräumen. Sie galt als „Mann-Weib“, als „Muskelprotz“, der „Beine wie Baumstämme“ hatte. Das Magazin „SPORTS“ urteilte 1983: „Ihr Körper war pure Provokation. Kann eine Frau solche Muskeln haben?“ Michael Reinsch von der „FAZ“ schrieb über Jarmila Kratochvílová, den „letzten Panzer“: „Sie stampfte die Konkurrenz und deren Bestzeiten ein. Muskulöser Körper, breite Schulterm kraftvoller Laufstil.“ Anfang der achtziger Jahre sei sie „wie ein Mann durch die Rennen der Frauen“ gestürmt. Mein im Vorjahr verstorbener Kollege Robert Hartmann, vehementer Anti-Doping-Verfechter, verwies bei Jarmila Kratochvílová auf die im Jahr 1978 erfolgte „so schnelle und plötzliche Steigerung ihres 400-m-Rekorde von 53,1 auf 51,09“. „Die Kundigen waren sich einig, nun sei der Sündenfall passiert. Männliche Hormone, Testosteron?“

Jarmila Kratochvílová selbst führte in Interviews ihre Fabelzeit immer auf ihr Training zurück. Wie im Gespräch mit Michael Reinsch, der sie 2011 in ihrem Sportclub Cáslav Vodratny, 70 km östlich von Prag, besucht hat. „Das beste Doping ist Training. Und der beste Beweis sind die Stapel von Trainingsbüchern. Sie zeigen, wie wir die Leistung aufgebaut haben: nicht drei, sondern sechzehn Jahre lang.“ Einmal wöchentlich habe sie, wie sie berichtet hat, Spritzen erhalten. „Sie enthielten Vitamin B12. Wenn jemand gesagt, dass es hilft, hat man das geglaubt. Ich habe immer gemacht, was ich wollte. Ich wurde zu nichts gezwungen.“

Mit Schutzmaske und Bleiweste
Auch nicht zu den in vielen Berichten erwähnten extremen Trainingsmethoden. Miroslav Kváč, ihr Coach und Entdecker, berichtete: „Wir machten unglaublich viel Krafttraining. In jedem Training hob sie insgesamt 16 Tonnen. Jeden Vormittag lief sie 18-mal 300 Meter.“ Seine Methoden waren unorthodox: „Sie lief durch ein Becken mit knöchelhohem Wasser oder mit militärischer ABC-Schutzmaske und 10-Kilo-Bleiweste.“ Dies bestätigte Jarmila Kratochvílová der „FAZ“. Dies sei aber nur einmal geschehen. „Wir mussten beide noch lernen.“

Seit 40 Jahren stehen die 1:53,28 Minuten unangetastet in der „ewigen“ 800-m-Weltbestenliste der Frauen. Auch die Kenianerin Pamela Jelimo in 1:54,01 (Zürich 2008) und die Südafrikanerin Caster Semenya in 1:54,25 (Paris 2018), die dem Fabel-Weltrekord noch am nächsten gekommen sind, konnten die Festung Jarmila Kratochvílová nicht einnehmen. Der intern als Testlauf deklarierte Münchner 800-m-Lauf war voll aufgegangen.

400-Meter-Weltrekord in Helsiniki
Die Tschechoslowakin riskierte daraufhin bei den Weltmeisterschaften in Helsinki einen Doppelstart über 400 m und 800 m. Sie absolvierte ein kaum für möglich gehaltenes Mammutprogramm, „dass jedem männlichen Kollegen zur Ehre gereicht hätte“ (Heinz Vogel im „Sport-Informations-Dienst“). Nur 34 Minuten nach dem 400-m-Zwischenlauf trat sie zum 800-m-Finale an, das sie in 1:54,68 „leicht und locker“ gewann. Kaum 24 Stunden nach diesem Titel holte sie auch über 400 m Gold in der neuen Weltrekordzeit von 47,99. Eine Zeit, die Marita Koch (DDR) 1985 in Canberra auf die heute noch bestehende Bestzeit von 47,60 drückte.

Internationales Münchner Olympiapark-Leichtathletikmeeting, Olympiastadion, 26. Juli 1983, 20,55 Uhr:
Frauen: 800 m:
1. Jarmila Kratochvilová (TCH) 1:53,28
2. Jolanta Januchuta (POL) 2:00,45
3. Martina Krott (FRG) 2:01,76
4. Margit Klinger (FRG) 2:02,04
5. Doriane McClive (SUI) 2:02,86
6. Maureen Coaken (AUS) 2:03,05
7. Lynn Williams (CAN) 2:05,00
8. Angela Kommeter (FRG) 2:05,58
9. Susanne Schlichtherle (FRG) 2:08,59

Weltrekord-Entwicklung im 800-m-Lauf der Frauen:
2:00,5 Vera Nikolic (YUG) London 20.07.1968
1:58,5 Hildegard Falck (FRG) Stuttgart 11.07.1971
1:57,5 Svetla Zlateva (BUL) Piräus 24.08.1973
1:56,0 Valentina Gerasimova (URS) Kiew 12.06.1976
1:54,9 Tatyana Kazankina (URS) Montreal 26.07.1976
1:54,9 Nadezhda Olizarenko (URS) Moskau 12.06.1980
1:53,43 Nadezhda Olizarenko (URS) Moskau 27.07.1980
1:53,28 Jarmila Kratocvolvá (TCH) München 26.07.1983

„Ewige“ Weltbestenliste im 800-m-Lauf der Frauen:
1:53,28 (1) Jarmila Kratochvilová (TCH) München 26.07.1983
1:53,43 (1) Nadezhda Olizarenko (URS) Moskau 27.07.1980
1:54,01 (1) Pamela Jelimo (KEN) Zürich 29.08.2008
1:54,25 (1) Caster Semenya (RSA) Paris 30.06.2018
1:54,44 (1) Ana Fidelia Quirot (CUB) Barcelona 09.09.1989
1:54,81 (2) Olga Mineyeva (URS) Moskau 27.07.1980
1:54,94 (1) Tatyana Kazankina (URS) Montreal 26.07.1976
1:55,04 (1) Athing Mu (USA) Eugene 21.08.2021
1:55,05 (1) Doina Melinte (ROU) Bukarest 01.08.1982
1:55,19 (1) Maria Mutola (MOZ) Zürich 17.08.1994
1:55,19 (1) Jolanda Betagelj (SLO) Heusden 20.07.2002

Olaf Brockmann
Olaf Brockmann
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(Bild: KMM)



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