Streit um Beitritte

Der Balkan und die EU – ein gordischer Knoten

Ausland
18.06.2022 06:00

Seit nicht weniger als 19 Jahren harren die zerstrittenen Balkanstaaten schon im Wartezimmer der EU aus. Indessen versucht Putin vom Balkan aus Europa aufzurollen - ohne einen einzigen Schuss abzugeben.

Die Air Serbia fliegt noch immer nach Russland, aber noch immer nicht in den Kosovo. Wer von Belgrad nach Pristina will, muss über Mazedonien ausweichen. Serbien hat als einziger europäischer Staat keine Sanktionen verhängt. Putin ist der populärste ausländische Politiker. Laut Umfrage stehen zwei Drittel im Ukraine-Krieg auf der Seite Russlands. Eine Belgrader Zeitung brachte zum Kriegsausbruch sogar die Schlagzeile zustande: „Ukraine hat Russland überfallen“.

Serbien will aber in die EU. Die NATO-Bomben 1999 auf Belgrad haben sich in die prorussische DNA des serbischen Nationalismus eingebrannt.

Klein-Amerika ohne Aufnahme
Szenenwechsel, Pristina, Hauptstadt der ehemaligen südserbischen Albaner-Provinz von der halben Größe Niederösterreichs. Wenn Serbien Klein-Russland ist, dann ist der Kosovo Klein-Amerika. Wie sollen die beiden je zusammenkommen zu einem gemeinsamen Weg in die EU, ohne den es keine Aufnahme gibt? (Der Kosovo hat als Außenministerin eine Kosovarin aus Deutschland.)

Staaten sitzen im Warteraum fest
Serbien und Kosovo; sie ärgern einander, wo es nur geht – aber das ist nicht der einzige Hotspot unter den Balkanstaaten, die nun schon seit 19 (!) Jahren im Warteraum der EU festsitzen; Serbien, Montenegro, Mazedonien mit Kandidatenstatus. Die Beitrittsverhandlungen mit Serbien hatten mehr schlecht als recht schon begonnen, jene mit Mazedonien werden vom EU(!)-Mitgliedsland Bulgarien im Streit um gegenseitige Minderheitenfragen blockiert.

Eine ähnliche Blockade bringt Kroatien gegen Bosnien-Hercegovina ins Spiel, falls die EU Beitrittsverhandlungen mit diesem Staat aufnehmen will. Erst müsse Sarajewo, so fordert man als Bedingung, das Wahlrecht ändern, damit endlich die Hercegovina-Kroaten als die dritte staatsbildende Nation in Bosnien anerkannt sind.

Putins bester Mann am Balkan
Den Vogel balkanischer Unruhestiftung schießt der Ober-Oligarch der Republika Srpska, des serbischen Landesteils Bosniens, ab: Milorad Dodik ist Putins bester Mann am Balkan. Die wachsenden Drohungen des ausgefuchsten Nationalpopulisten, Bosnien durch Abspaltung zu sprengen, wird nun sogar dem anderen Nationalpopulisten, Serbiens Präsidenten Alexander Vučić, zu viel.

Dodiks Umarmungen stören seine Schaukelpolitik zwischen Brüssel, Moskau und Peking. „Zu viel Geschichte, um sie verdauen zu können“, vergleicht Außenminister Alexander Schallenberg die Leiden des Balkans mit jenen der Habsburgermonarchie.

Unheilschwanger machen Gerüchte die Runde, wonach Putin Ende des Sommers über den Balkan Europa aufrollen will, mit einer Initiative für einen Bruderbund slawisch-orthodoxer Staaten. Das hieße, den Fuß in Europa hineinzustellen, ohne einen einzigen Schuss.

Schallenbergs Zwei-Fronten-Strategie
Außenminister Schallenberg befürchtet ein solches Wegschwimmen des Balkans, wenn dieser weiterhin im Warteraum der EU vergessen wird. Dazu hat er eine Zwei-Fronten-Strategie entwickelt: am Balkan auf Reformen drängen („Der Weg in die EU kann keine Einbahn sein“) und andererseits die EU von neuen Formen, nämlich einer Teil-Mitgliedschaft, überzeugen. Das heißt: Wenn im Laufe von Beitrittsverhandlungen in bestimmten Bereichen hinreichend EU-Reife erreicht ist, soll man gleich in die Praxis übergehen, ohne auf die Vollmitgliedschaft zu warten.

Zitat Icon

Der Balkan ist unser Nachbar. Er berührt wie die Ukraine unsere Sicherheit. Wenn Europa nicht bald handelt, wird er zu einer Brutstätte.

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP)

Schallenberg vor dem „Ukraine-Gipfel“ der EU: „Der Balkan ist unser Nachbar. Er berührt wie die Ukraine unsere Sicherheit. Wenn Europa nicht bald handelt, wird er zu einer Brutstätte, die gerade in der jetzigen Lage neue Krisen nach Europa bringt. Der Balkan ist kein Hinterhof, er ist der Innenhof in der EU.“

„Serbien möchte auf europäischem Weg bleiben“
Serbiens Außenminister Selaković beteuert im Gespräch mit Schallenberg: „Serbien möchte auf dem europäischen Weg bleiben. Es gibt keine Alternative. 67 Prozent unseres Wirtschaftsverkehrs erfolgen mit der EU. Österreich ist der drittgrößte Investor. Diese Betriebe sorgen für 20.400 Jobs. 300.000 Serben leben in Österreich, davon 100.000 mit serbischer Staatsbürgerschaft.“ Sanktionen? „Wir haben in der UNO den Angriffskrieg verurteilt. Wir respektieren die territoriale Integrität der Ukraine – übrigens auch jene Bosniens.“

„Wer weiß, wohin Moskau noch sein Auge wirft?“
Szenenwechsel, Kosovo: ein dynamisches Land im Aufbruch, in welches viel Geld hineinfließt – offizielles und illegales; enorme Bautätigkeit und viele Tankstellen zur Geldwäsche. Die Bevölkerungsexplosion macht den Kosovo in jeder Beziehung zum jüngsten Staat Europas. Das unternehmerische Talent zeichnet die Albaner, die sich selbst Skipetaren nennen, in allen drei Staaten aus: Kosovo, Albanien, Mazedonien.

Der Abschluss seiner jüngsten Balkanreise führt den Außenminister zu dem österreichischen Bundesheerkontingent der NATO-geführten KFOR–Schutztruppe. Schallenberg zu den Soldaten unter dem Eindruck eines „tektonischen Bebens in Europa“: „Ich fürchte, wir werden nicht weniger, sondern bald mehr KFOR brauchen. Wer weiß, wohin Moskau noch sein Auge wirft.“

Loading...
00:00 / 00:00
play_arrow
close
expand_more
Loading...
replay_10
skip_previous
play_arrow
skip_next
forward_10
00:00
00:00
1.0x Geschwindigkeit
explore
Neue "Stories" entdecken
Beta
Loading
Kommentare

Da dieser Artikel älter als 18 Monate ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt kein Kommentieren mehr möglich.

Wir laden Sie ein, bei einer aktuelleren themenrelevanten Story mitzudiskutieren: Themenübersicht.

Bei Fragen können Sie sich gern an das Community-Team per Mail an forum@krone.at wenden.

Kostenlose Spiele