Kriegsreporterin:

Wir haben am Hindukusch auf die Falschen gesetzt!

Ausland
17.08.2021 06:00

Es ist immer wichtig, daran zu erinnern, was eigentlich niemand hören will: Die afghanische Gesellschaft ist korrupt. Die Armee ist angesichts des Taliban-Blitzkrieges wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Der unfähige Präsident Ashraf Ghani ist über Nacht geflohen. Er hat seine eigene Bevölkerung im Stich gelassen.

Wer ist aber dieser Mann? Ein vom Westen ausgesuchter Kandidat. Ein Politiker, der jahrzehntelang in den USA lebte. Er kannte sein eigenes Volk nicht. Laut Insidern hörte er auf keinen Einheimischen. Ähnlich abgehoben war ein Großteil der Kabuler Elite, Menschen, teilweise im Westen ausgebildet. Sie feierten Poolpartys mit NGOs. Sie tranken französischen Wein. Während diese Leute in schicken italienischen Restaurants in Bezirk Sharenau zu Abend aßen, hungerten draußen Frauen und Kinder.

Enorm schwierige Rahmenbedingungen
Die Betonklötze, die massiven Sicherheitsmaßnahmen überall können nicht darüber hinwegtäuschen: Das Land am Hindukusch ist ein Armenhaus. Noch 2011 lebten 38 Prozent der Afghanen von knapp einem Euro am Tag. Heute sind es 55 Prozent. Das trotz Entwicklungshilfe, die übrigens in den letzten Jahren nicht größer, sondern kleiner wurde.

Als nach den schrecklichen September-Anschlägen 2001 der NATO-Einsatz begann, war Afghanistan das ärmste Land der Welt. Heute ist es das zweitärmste. In den vergangenen Jahren haben Dürren und Überflutungen das Ihre dazu beigetragen.

Die Korruption im Land war allen bekannt
Klagen über Korruption von Soldaten und Ministern habe ich in Afghanistan immer gehört. So was war Alltagsgespräch. Wussten die Amerikaner und Europäer, ausgestattet mit der besten Abhör-Technologie, nichts darüber? Die Antwort lautet, sie wussten es. Ich traf Vertreter vom westlichen Einheiten, die mir schmunzelnd erklärten, ihnen sei bewusst, der und der Gouverneur einer Provinz sei bestechlich. Getan wurde nichts.

Heute ist es leider zu spät. Wir haben auf die Falschen gesetzt. Besser hätten wir eine frische junge Elite heranziehen sollen. Da gibt es in Afghanistan genug Männer und Frauen. Sie warteten vergeblich auf ihre Chance, das Land zu modernisieren. In diesen Stunden sind sie verzweifelter als der US-Präsident Joe Biden. Nur den Afghanen die Schuld zuzuschieben ist daher zu einfach.

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Dies sind keine Menschen vom Mond. Dies ist nicht unbedingt eine Minderheit.

Antonia Rados

Taliban nicht unbedingt eine Minderheit
Wir müssen uns die Bilder der bärtigen Gotteskrieger, in Lumpen gekleidet, im Büro des geflohenen Präsidenten Ashraf Ghani genau ansehen. Dies sind keine Menschen vom Mond. Dies ist nicht unbedingt eine Minderheit. Eine Mehrheit der Afghanen sieht genauso so aus. Ärmlich angezogen. Im Winter frieren die Menschen. Sie schicken ihre Töchter nicht in die Schule, sondern zur Arbeit. Weil sie das Geld brauchen. Eine andere traurige Bilanz: Nur 3 von 10 Afghanen, Männer eingeschlossen, können nach 20 Jahren internationalem Einsatz schreiben und lesen.

Man muss ein Land dort abholen, wo es sich befindet. In Afghanistan ist das sicher nicht in einem schwer bewachten Restaurant.

Ein Gastbeitrag von Antonia Rados

Zur Person

Antonia Rados, jahrelang Kriegsreporterin für die RTL- Gruppe. Mehrfach ausgezeichnet. Seit 1980 berichtete sie immer wieder aus Afghanistan.

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