In seiner Weihnachtskolumne erzählt „Krone“-Autor Harald Petermichl eine Geschichte, die sich im Ersten Weltkrieg über die Feiertage an einer Front abspielte. Dort machte der Krieg Pause. Völker verbanden sich wieder, wenn auch nur kurz. Ähnliches wäre für die Gegenwart wünschenswert.
Das französische Département mit dem einprägsamen Namen „Nord“ ist nicht nur das bevölkerungsreichste, sondern auch eines der schmalsten, was unter anderem daran liegt, dass es an Belgien und die Nordsee grenzt und deshalb nicht mehr Platz hat. Lille und natürlich Roubaix sind die bekanntesten Städte und mit Beginn der industriellen Revolution entwickelte sich der Landstrich wegen der großen Kohlevorkommen zu einer prosperierenden Region. Das ist heute, siehe Ruhrgebiet, ganz anders und man spricht einigermaßen euphemistisch von einem „strukturschwachen Gebiet“, weil auch die später bedeutende Textilindustrie schon längst nicht mehr existiert. Eine Reise dahin lohnt sich trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb, sofern man ein Faible für den besonderen und spröden Charme ehemaliger Kohlereviere hat.
Empfehlenswert ist es, in der nordwestlich von Lille gelegenen 2.500-Seelen-Gemeinde Frelinghien einen Stopp einzulegen. Und zwar am südlichen Ortseingang, da wo sich die Rue d’Armentières und die Route de la Croix de Pierre in einem Kreisverkehr in Sichtweite des Fußballplatzes treffen. Dieser liegt allerdings ungünstig, weil unkontrollierte Befreiungsschläge nicht selten im Grenzflüsschen Lys oder gleich auf belgischem Staatsgebiet landen, aber egal. Ignoriert man den Hinweis des Navigationssystems „Bitte den Kreisverkehr an der zweiten Ausfahrt verlassen“ und steuert stattdessen den Parkplatz an, findet man ohne große Mühe ein eher unscheinbares Mäuerchen aus Natursteinen, gesäumt von einer britischen, einer französischen und einer deutschen Flagge. Darin eingelassen eine Betonplatte, die zwei militärische Abzeichen und die Inschrift „Christmas Truce 1914“, also „Weihnachts-Waffenstillstand 1914 trägt.
Eingeweiht wurde diese kleine Gedenkstätte am 11. November 2008, 90 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs mit einem recht speziellen Programm, denn nach dem obligatorischen Gottesdienst und der Enthüllung des Mahnmals wurde ein Bierfass herumgerollt und im Anschluss daran gab es ein Fußballspiel zwischen Soldaten des 1st Battalion „The Royal Welsh“ und Angehörigen des deutschen Panzergrenadierbataillons 371 „Marienberger Jäger“, verstärkt durch die Panzergrenadierbrigade „Freistaat Sachsen“, über dessen Ausgang jedoch keine Aufzeichnungen vorliegen. Ist auch nicht so entscheidend, wichtiger ist der historische Anlass für diesen Festakt:
Am Weihnachtsabend 1914 – der Erste Weltkrieg war noch kein halbes Jahr alt – hatten britische und deutsche Soldaten, die sich bei Frelinghien in ihren Schützengräben gegenüberlagen, beschlossen, gegen alle Befehle und Anweisungen von oben die Kampfhandlungen eigenmächtig zu unterbrechen und einen temporären weihnachtlichen Waffenstillstand zu schließen. Weil sie die örtliche Brauerei eh schon besetzt hatten, steuerten die Deutschen das Bier bei (da haben wir die Erklärung für die Fassrollerei) und die Waliser beteiligten sich mit Christmas Pudding, einer Spezialität aus Trockenobst und Rindernierenfett. Und es soll sogar zu einem Fußballspiel gekommen sein.
Ehrlicherweise muss man zugeben, dass die Quellenlage hierzu mehr als dürftig ist. Zeitzeugen gibt es nicht mehr und viele Überlieferungen bergen selbstredend die Gefahr der nachträglichen Verklärung. Es darf somit bezweifelt werden, dass das Match, wie ein deutscher Leutnant in einem Brief schreibt, „3:2 für die Deutschen“ ausgegangen sei und überhaupt sollte man sich von der Vorstellung trennen, es habe sich um ein organisiertes Fußballspiel mit Toren, Linien und einem Schiedsrichter gehandelt. Ein wildes Gekicke mit einem Fetzenball auf irgendeinem champ de patates dürfte der Wahrheit deutlich näherkommen.
Am unvorstellbaren Grauen des Ersten Weltkriegs mit seinen geschätzt 17 Millionen Toten konnten solche Aktionen (es hat an jenem Frontabschnitt im französischen Flandern an Weihnachten 1914 tatsächlich mehrere Waffenstillstände gegeben) nichts ändern, denn nach den Feiertagen wurde weitergekämpft, als sei nichts gewesen. Dennoch ist es eine schöne Weihnachtsgeschichte, die in ihrer Schlichtheit mehr Völkerverbindendes in sich birgt als alle verlogenen FIFA-Hochglanz-Werbekampagnen der letzten 20 Jahre zusammen.
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