Zwei Jahre Krieg
Ukraine: Leben an der Front bleibt Lotterie
Eine Woche lang hat die Referentin für Nothilfe von Care Sarah Easter mit Menschen in den von Russland annektierten Gebieten Cherson, Saporischschja und Donezk gesprochen und war in einem Dorf, das über Monate unter russischer Besatzung stand. Die Menschen erzählten ihr, dass das Leben seit dem Angriff Russlands vor zwei Jahren sozusagen „auf Pause“ - also stehengeblieben - sei.
„Die Menschen vor Ort haben das Gefühl in der Zeit eingefroren zu sein. Es ist kein Leben, nur Überleben“, berichtet Easter. 3,3 Millionen Menschen würden derzeit in der Nähe der Front leben - und damit in einer dauerhaften „Ausnahmesituation“. Der Verein für Entwicklungszusammenarbeit Care hilft vor Ort auch durch psychosoziale Einrichtungen, um die Gedanken vom Krieg wenigstens für kurze Zeit abzulenken.
In einem Dorf, das einhundert Tage unter russischer Besatzung stand, verbrachte eine Frau die Zeit mit ihrem Mann in einem Keller, der zwei mal zwei Meter Platz bot. Auf die Tür habe sie das Wort „Menschen“ geschrieben, damit sie nicht direkt beschossen würden. 80 Prozent der Häuser in dem Dorf seien beschädigt, ohne Dach oder ohne Fenster. Es gäbe nur ab und zu Strom, selten fließendes Wasser. Währenddessen sinken die Temperaturen auf bis zu minus 20 Grad. So sitzen Millionen Menschen vollangezogen in ihren Kellern oder gehen in den Gärten auf und ab, um sich warm zu halten - wenn diese nicht vermint sind. Sonst verlassen sie die Häuser nur für Lebensnotwendiges wie Essen. Niemand weiß, ob sie vom Markt zurückkommen werden und ob das Haus bei der Rückkehr noch stehen wird. Eine Frau habe Easter erzählt, dass sie aus Angst nur noch rennt, wenn sie die Straße betritt.
Große Solidarität unter den Menschen
Die Solidarität zwischen den Menschen bleibt unterdessen ungebrochen. Man könne nicht für alle sprechen, betont Easter, aber viele wollten ihr Zuhause weiter verteidigen, bleiben deshalb auch vor Ort und Nachbarschaften organisieren Essen gemeinsam. Das ukrainische Nationalempfinden sei weiterhin groß, auch wenn der Krieg die Menschen zermürbt. Doch nicht nur der Wille zur Verteidigung hat die Menschen dazu gebracht, zu verweilen, während in anderen Teilen der Ukraine über vier Millionen Binnenflüchtlinge zu verzeichnen seien. Manche seien zu schwach, zu alt oder zu arm, um zu fliehen. Und von manchen befindet sich ein Teil der Familie auf der einen Seite, ein Teil auf der anderen Seite der Frontlinie, sie hören sich teils monatelang nicht, wissen nicht um den Verbleib und warten auf Anrufe.
Eine Verletzung auf der russischen Seite würde einem Todesurteil gleichkommen, berichtet Easter über die Erfahrungen jener, die die russische Besatzung überlebten. Keinerlei medizinische Versorgung führe dazu, dass Menschen an vermeintlich kleinen Verletzungen verbluten würden. Auf der ukrainischen Seite gebe es für solche Notfälle mobile Teams, die wissen, wo und wann Hilfe gebraucht würde.
Kinder halten in der Nacht Wache
Care hilft den nationalen Helfenden vor Ort finanziell und durch humanitäre Leistungen. Dabei betont Easter auch die psychischen Traumata, die durch den Krieg entstehen würden. Gerade für Kinder geben es in frontnahen Regionen keinerlei Aktivitäten mehr, Schule sei - wenn überhaupt möglich - online. Außerdem erzählt sie von Kindern, die in der Nacht Wache halten, um Familienmitglieder vor einem Angriff warnen zu können. „Zuerst wacht die Tochter, dann übernimmt die Mutter, die letzten Stunden der Nacht steht die Großmutter am Fenster und horcht, wie weit die Explosionen noch entfernt seien. Tagsüber kommen sie in die Gemeindezentren, wo sie für ein paar Stunden wieder atmen lernen.“
Sarah Easter ist inzwischen wieder in Berlin. Sie wünscht sich, dass die Individuen hinter den Zahlen nicht vergessen werden und dass andere Krise nicht davon ablenken, wie wichtig die Spenden für humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine sind.
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