Die „Krone“ hat den amerikanischen Schriftsteller John Irving zum Gespräch gebeten – über seinen neuen Roman „Königin Esther“, über Wien und die Sorgen um sein Geburtsland.
„Zu meinen Lieblingsorten in Wien gehörten der Augustinerkeller und die Kaffeehäuser, besonders das Café Hawelka. In den 1960er-Jahren war es ein wunderbarer Treffpunkt für Studierende und Künstler. Ich vermisse es und bin schon viel zu lange nicht mehr dort gewesen.“ Auch wenn John Irving es selbst nicht mehr regelmäßig nach Wien schafft, so kehrt er doch immer wieder in Gedanken in die Stadt seines unvergesslichen Studienjahrs (1963) zurück. Später kam er noch einmal. Gleich für drei Jahre, in denen er an einem Drehbuch arbeitete. „Ich habe wunderbare Erinnerungen an diese Zeit. Einer meiner Söhne wurde in Wien geboren, der andere ging dort zeitweise in die Schule“, erzählt er im Interview mit der „Krone“.
Eine besondere Art von Fremdenfeindlichkeit
Damals erlebte er auch Schattenseiten, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit: „Wien war anders als der Rest Österreichs. Es schien eine besondere Art von Fremdenfeindlichkeit zu geben. Weil mein Deutsch so schlecht war, hörte jeder sofort, dass es nicht meine Muttersprache ist. Oft folgte dann der Satz: ,Ah, Sie sind ein Ausländer.´ Und dieses Wort hatte einen Unterton – es klang nicht freundlich. Das war nicht überall in Österreich so.“
Oft machte er Wien zum Schauplatz in seinen Büchern, vor allem im Debüt „Lasst die Bären los!“ und in „Hotel New Hampshire“. Jetzt mit 83 ist er noch einmal hierher zurückgekehrt: In seinem neuen Roman „Königin Esther“ lässt er wichtige Kapitel in der Stadt seiner Studienzeit spielen.
Inspiration im Alten Testament
Für den Titel allerdings wurde Irving vom Alten Testament inspiriert. „Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr ich als Teenager das Buch Ester liebte – einfach, weil Ester eine so faszinierende Frau ist. Einige alttestamentarische Figuren hat es historisch gesehen wirklich gegeben, aber viele Geschichten sind nicht ganz wahrheitsgemäß. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass es je eine jüdische Königin von Persien gegeben hat. Aber es bleibt eine großartige Geschichte“, so der 83-Jährige.
Seine „Königin“ ist die in Wien geborene Jüdin Esther Nacht, die schon als kleines Kind im Waisenhaus von Dr. Wilbur Larch landet und später von der Familie Winslow in New Hampshire (Irving-Fans kennen diese bereits) aufgenommen wird. Inmitten des Nazi-Terrors kehrt sie in ihre Geburtsstadt zurück – um schließlich als frühe Zionistin nach Israel zu gehen. „Ich habe versucht, den denkbar schwierigsten Zeitpunkt für die Rückkehr einer in Wien geborenen Jüdin zu wählen – eine Zeit, in der so viele Wiener Juden die Stadt bereits verlassen hatten oder gerade im Begriff waren zu gehen.“
Im Dunklen liegt auch Leichtigkeit und Humor
Esther ist die große Präsenz im Roman, auch wenn sie physisch nur selten vorkommt – sie ist „die treibende Kraft im Hintergrund, die alles in Bewegung setzt.“ Im Mittelpunkt steht ihr Sohn Jimmy, der Jahre später auf der Suche nach dieser Mutterfigur ihren Spuren folgt. Dessen Studentenjahr in Wien verleiht Irving die passende jugendliche Note. „Diese Kapitel sollten Tempo haben und einen komödiantischen Ton anschlagen. Natürlich liegt hier vieles im Dunklen, ist verborgen oder mysteriös. Aber an der Oberfläche wollte ich Leichtigkeit und Humor.“
Ein warmherziges Porträt einer frühen Zionistin
1981 reiste John Irving als junger Schriftsteller auf eine Buchmesse in Jerusalem – und lässt dies auch Jimmy tun. Dass das Buch nun im allgegenwärtigen Nahost-Konflikt so eine Aktualität in sich trägt, ist allerdings Zufall. „Dieses Buch entstand lange vor den Angriffen vom 7. Oktober. Ich hatte bereits einige Jahre früher damit begonnen. Meine Romane liegen normalerweise zuerst als Stapel Papier da, mit einem Figurenensemble, einer Zeitachse und einem Handlungsgerüst – meist vom letzten Kapitel hin zum ersten Kapitel. Ich beginne nie, ein Buch zu schreiben, ohne zuvor schon mehr als die Hälfte eines letzten Kapitels geschrieben zu haben – bevor ich überhaupt mit dem eigentlichen Nachdenken und Planen anfange“, erklärt Irving.
„Es war immer als ein pro-jüdischer, pro-israelischer Roman gedacht. Ich wollte empathisch von einer der aschkenasischen Jüdinnen erzählen. Geboren in Europa, später Zionistin, überzeugt davon, am Aufbau des Staates Israel mitzuwirken. Ich wollte ihr eine eigene Geschichte geben, sodass – ganz gleich, ob man jüdisch ist oder nicht, ganz gleich, welche Haltung man zu Israel hat – ein warmherziges Porträt einer frühen Zionistin entsteht. Ich wollte sagen: Egal, was du heute denkst, egal, wie du die heutigen Ereignisse beurteilst – du kann nachvollziehen, weshalb sie diesen Weg gewählt haben mag.“
Freunde waren bei Anti-Netanjahu-Protesten
Als das Buch fertig war, kam er noch einmal nach Israel. „Ich wollte nicht nach Israel zurückkehren, bevor ich den Roman geschrieben hatte. Ich wollte ihn aus der Erinnerung heraus verfassen, wohl wissend, dass ich später zurückgehen und mir vieles wieder vergegenwärtigen würde“, betont er. „Die meisten meiner israelischen Freunde waren abends bei Anti-Netanjahu-Protesten, während ich die Notizen des Tages transkribierte.“
In „Königin Esther“ kommen viele seiner ewigen Themen vor: U. a. ungewöhnliche Familienkonstellationen, sexuelle Orientierung,seine Liebe zu Charles Dickens, Wrestling – und die Suche nach Herkunft und Identität. „Diesmal habe ich mich veranlasst gefühlt, zu sagen: Ich bin nicht jüdisch, ich bin nicht israelisch. Aber ich bin ein Verbündeter der Juden. Ich bin ein Verbündeter des Staates Israel. Er hat ein Existenzrecht. Amen.“
Der Schriftsteller als Verbündeter
Seit Beginn versetzte er sich in Menschen hinein, die für ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen mussten.„Als Schriftsteller wollte ich ein Verbündeter jener Menschen sein, zu denen ich selbst nicht gehöre und in die ich mich erst hinein fühlen musste.“ Bereits in den ersten Romanen kamen viele seiner Protagonisten aus der LGBTQ-Community.„Mein jüngerer Bruder und meine jüngere Schwester – Zwillinge – sind homosexuell. Schon sehr früh hatte ich verstanden, wie schwierig und gefährlich es für sie war, in einer Kleinstadt in New England aufzuwachsen.“
„Es hätte sie zutiefst erschüttert, es hätte sie wahnsinnig gemacht.“
John Irving war auch schon Feminist, als es noch keine große Bewegung gab.„Ich begann mich für Frauenrechte und das Recht auf Abtreibung zu interessieren – nicht, weil ich selbst zuerst dachte, dass es richtig ist, sondern beeinflusst durch meine Mutter, die für diese Rechte kämpfte, lange bevor ich andere Aktivisten kannte“, erzählt er. „Sie arbeitete als Pflegehelferin in einer Familienberatungsstelle. Ihre Aufgabe war es, mit jungen, unverheirateten Frauen und Mädchen zu sprechen, ihnen beizustehen, wenn sie schwanger waren – sowohl in der Zeit vor sicheren und legalen Abtreibungen als auch danach.“ Und fügt hinzu: „Es ist gut, dass sie nicht erleben muss, wie sich die Situation in den USA wieder zurückentwickelt. Es hätte sie zutiefst erschüttert, es hätte sie wahnsinnig gemacht.“
Protest gegen Donald Trump
Nicht nur deswegen bereiten ihm die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten Sorgen. „Es sind wirklich dunkle Zeiten für die USA, die sich in vielerlei Hinsicht rückwärts bewegen – nicht nur bei Frauenrechten und reproduktiver Selbstbestimmung“, so Irving.„Trump ist, in meinen Augen, ein autoritärer Faschist. Ich erkenne die Demokratie nicht wieder, die mein geliebtes Geburtsland einmal war – bevor er und die republikanischen Außenseiter, die ihn unterstützen, an Einfluss gewannen. Ich bin erschrocken, wie schnell es gehen kann – wie schnell eine Demokratie ins Wanken gerät und die Rechte, für die wir so lange gekämpft haben, erneut bedroht sind.“
Er selbst lebt schon länger mit seiner Frau in Toronto, Kanada – und möchte zurzeit nicht in die USA zurückkehren. „Im Februar 2025, Trump war erst seit einem Monat im Amt, sagte ich meinem US-Verlag Simon & Schuster, dass ich meinen Roman in den Vereinigten Staaten nicht bewerben würde – als Protest gegen den autoritären Faschisten im Weißen Haus.“
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