„Krone“-Interview

Naked Lunch: Klang-Preziosen aus der Einsamkeit

Musik
09.11.2025 11:10

Mit einem neuen Studioalbum der alternativ-poppigen Chefmelancholiker Naked Lunch hätten auch viele treue Fans nicht mehr gerechnet, doch Frontmann Oliver Welter hat nicht nur den Abgang von Partner Herwig Zamernik, sondern auch die Pandemie und private Rückschläge verarbeitet und in wundervoll-melancholische Klänge gegossen. Im „Krone“-Talk geht es auch um Euphorie, TikTok und David Bowie.

kmm

„Krone“: Oliver, mit „Lights (And A Slight Taste Of Death)” erschien dieser Tage das erste Naked Lunch-Studioalbum seit „All Is Fever“ 2013, also zwölf Jahren. Damit haben viele deiner Fans sicher nicht mehr gerechnet. Wie kam es dazu?
Oliver Welter:
 Dass es ein neues Album gibt, ist auch für mich überraschend. Im Hintergrund habe ich immer an Musik gearbeitet, aber ich bin kein sonderlich Social-Media-affiner Mensch – andere würden diese Prozesse ja ständig dokumentieren. So kriegt kein Mensch was davon mit. Die Musik ist irgendwie unausweichlich. Ich kann nichts anderes und ich will nichts anderes. Und den ganzen Tag herumsitzen und nichts tun geht auch nicht. Es hat sich über die Jahre viel angesammelt und ich habe viel davon verworfen. Zuerst waren es zwölf Songs, dann noch einmal ca. 20, die ich wahrscheinlich nie wieder angreifen werde. Manche, wie der Opener „To All And Everyone I Love“, haben diese Phase auch überlebt. Ich habe, wie viele andere auch, mein klassisches Corona-Album geschrieben, aber als ich es im Nachhinein gehört habe, war ich richtiggehend erschrocken. Der Rückzug in die Einsamkeit, der für viele Menschen so neu war, war es für mich nicht. Ich kenne und mag die Einsamkeit, es ist ein relativ gewohntes Bild, insofern habe ich die musikalische Reflexion daraus als billig empfunden und weggeworfen.

Hast du diese aussortierten Songs weggeworfen, oder lässt du dir ein Hintertürl offen, sie doch irgendwann zu veröffentlichen?
Zwei, drei Nummern haben es aufs Album geschafft, ansonsten habe ich einen radikalen Schnitt gemacht. Man muss sich von Dingen trennen und sie beenden können. Sonst würden Literaten, die an einem Buch schreiben, dieses Buch nie veröffentlichen können.

Trotzdem verbringt man viel Zeit mit dem Material und es wird sich ein bisschen nach Kindesweglegung anfühlen. Hast du bei den neueren Songs, die jetzt auf dem Album gelandet sind, gespürt, dass sie Material für Naked Lunch sind? Oder hat sich dieses Werk erst mit der Zeit herauskristallisiert?
Nein, das war mir schnell klar, dass es kein Soloalbum von Oliver Welter wird. Ich habe diese Band gegründet und immer gesagt, ich beende sie dann, wenn ich es als richtig empfinde. 2015 haben wir aus der Singles Collection das letzte Mal etwas veröffentlicht, aber die Band war immer mein Baby. Ich wusste schon damals, obwohl nicht mehr viel ging, dass ich irgendwann einmal noch ein Album machen würde – wo und wie auch immer. Mich hat am Weg dorthin dann aber der Mut verlassen und der Ausstieg von Herwig Zamernik 2019 war ein großer Bruch. Von all dem musste ich mich erst befreien. Heute sind wir beide super miteinander, auch wenn es nicht immer leicht war. Herwig ist ein perfektes Gegenüber, im Musikalischen wie im Inhaltlichen – es war wie eine lange Beziehung, die irgendwann zu Ende ging. Ich habe mich immer gefragt, ob die Menschen da draußen eine Klarstellung hören möchten oder ob das Weitermachen Sinn macht. Mein Sohn Oskar (Haag, Musiker und Schauspieler – Anm. d. Verf.) hat mir erzählt, dass wenn er Interviews gibt, ihn die Leute immer auf Naked Lunch anreden würden. Für viele war es offenbar selbstverständlich, dass es Naked Lunch gibt. Das war dann auch bei mir so.

Die Fanbase von Naked Lunch war immer groß und treu. Einen Interessens- oder Bedeutungsverlust von Naked Lunch hätte ich nicht mitbekommen …
Das nicht, aber ich bin auch nicht mehr der Jüngste und es ist ein bisschen ein Gesetz der Natur, dass sich Menschen ab einem gewissen Alter vermehrt ins Private zurückziehen und nicht mehr so oft auf Konzerten zu sehen sind. Solche Menschen sind dann weg, die kriegst du als Musiker nicht mehr zurück, doch glücklicherweise kam auch immer etwas von den Jungen nach. Die Band hat eine gewisse Wertigkeit erreicht und das ist natürlich schön zu hören.

War Herwig nicht auch ein guter Reibebaum? Ihr habt euch beide nichts geschenkt, in eurer gemeinsamen Zeit bei Naked Lunch.
Irgendwann war die künstlerische Beziehung aus. Er war derjenige, dem ich vertraut habe. Er war der Einzige, dessen Meinung mich beim Songwriting zum Nachdenken brachte, oder wo ich auch mal geschluckt und die andere Idee genommen habe. Jetzt habe ich Wolfgang Lehmann kennengelernt, den ich von anderen Projekten hoch schätze und live hat er mir beim Wiener „Popfest“ irrsinnig gut gefallen. Diese übertriebene Performance, der Rock’n’Roll-Gestus und die Sorgfalt, wie mit dem Licht umgegangen wurde. Wir haben dann miteinander gesprochen und beschlossen, gemeinsam an diesem Album zu arbeiten.

Den Rock’n’Roll-Gestus kennst du aus der Vergangenheit von Naked Lunch nur zu gut. Das waren doch eure Werte in den 90er- und frühen 2000er-Jahren.
Ich glaube schon, aber mich haben all diese Geschichten über uns, dass wir immer Hotelzimmer zerstört hätten und dergleichen, sehr verwundert. Wenn man das als mittelgroße Band aus Österreich macht, wirkt das ein bisschen lächerlich. Wir waren auch nie eine Drogenband. Ja, wir haben Alkohol getrunken, aber nicht im Übermaß. Die Musiklandschaft schaut heute sowieso ganz anders aus. Mein Sohn agiert ganz anders als wir damals. Zuerst geht es einmal um die Social-Media-Profile. Der TikTok-Kanal kommt schon vor der Bandgründung. Es wird auf Klicks und Views geschaut und selbst die Literaturverlage schauen auf Follower. Das ist absurd, aber so ist es und man muss auch nicht alles gut finden, was früher Rock’n’Roll war. Ich spreche bei Rock’n’Roll nicht davon, sich anzusaufen, sondern von der Haltung. Das ist gleichbedeutend mit Punk. Eine gewisse Verweigerung, bestimmten Dingen gegenüber und für gewisse Werte einzustehen. Einfach ein bisschen mehr wie Lemmy Kilmister von Motörhead sein.

Dein neues Album finde ich viel persönlicher und kathartischer als alle anderen von Naked Lunch zuvor. „We Could Be Beautiful“ wirkt wie so ein weltumspannender Song, der darauf abzielt, den Menschen Dinge gewahr zu machen, die sie übersehen. All die anderen Lieder scheinen eher deinen Mikrokosmos zu betrachten.
Naked Lunch war nie eine explizit politische Band, aber eine Band mit Haltung. Viele Parteien haben uns über die Jahre gefragt, ob wir für sie spielen, aber wir haben immer abgelehnt. Vor 15-20 Jahren hat es auch mal die FPÖ probiert – völlig absurd. Wie kamen die darauf? Die Musik findet in einem Mikrokosmos statt. Ich stehe als einzelne Person da und korrespondiere mit der Welt. Ich habe schon immer empfunden, dass die Menschen verloren sind, aber das Verloren sein nimmt unaufhaltsam zu. Bis zum Anfang der 2000er-Jahre hatten wir eine gute, prosperierende Zeit. Seit den 50er-Jahren glauben wir Menschen, dass es immer weiter bergauf geht, aber das stimmt schon lange nicht mehr. Wer kann sich heute noch ein Haus leisten, wenn er nicht gut geerbt hat? Ich will aber nicht über Weltpolitik sprechen, denn jeder, der das Herz am rechten Fleck hat, weiß, dass wir auf immer dunklere Zeiten zugehen. Da braucht keiner einen Oliver Welter, der seine Stimme dazu erhebt.

Du erzählst in vielen Songs sehr mutig von dir und deinen Geschichten. Auch deine Krebserkrankung spielt eine Rolle.
Ich will nicht wahnsinnig genau darauf eingehen, aber es war eine Krankheit, bei der es um Leben und Tod ging – die Geschichte ging gut aus. Bei mir haben sie den linken Bauchraum komplett ausgeräumt. Da ist nichts mehr drinnen. Es war ein langer Prozess und mir ging es psychisch beschissen. Ich wusste aber, der Krebs und die OP können mir nichts anhaben, ich bin viel stärker. Ich hatte diesen Glauben lange, aber irgendwann hatte ich einen psychischen Knacks, der zu zwei, drei Jahren dunkler Phase führte, wo nichts gegangen ist. Ohne professionelle Hilfe wäre ich nicht mehr weitergekommen.

Ging in dieser dunklen Phase gar nichts, oder konntest du Lieder schreiben?
Ich kann nicht für andere Menschen sprechen, die solche Phasen durchleben, aber in meiner eigenen Dunkelheit konnte ich überhaupt nichts schaffen. Man muss sich selbst daraus raus manövrieren, erst dann kann man diese Zeit reflektieren, aber da musste ich schwer aufpassen, dass es kein zu dunkles, trauriges und selbst mitleidiges Machwerk wird. Selbstmitleid kann ich nicht leiden, vor allem nicht so dokumentiert.

Selbstmitleid nach außen gestülpt.
Genau. Viele empfinden Leonard Cohen als traurigen und extrem düsteren Autor, aber so habe ich nie empfunden. Die Art des Gesangs und seine Musik sind sehr nüchtern, aber nicht selbst mitleidig. Das schätze ich wahnsinnig an ihm.

Was hat diese schlimme Erfahrung schlussendlich mit dir als Mensch und Songwriter gemacht? Siehst du das Leben heute anders? Bist du ein anderer geworden?
Ja, aber nicht so radikal. Ich war auch in diversen Foren und habe von Menschen gelesen, die in der Not konvertieren und plötzlich gläubig werden, aber mit meinem gesunden Atheismus geht sich das nicht aus. Den kann ich nicht einfach ablegen, um mich irgendeinem Gott oder einer anderen Form der Spiritualität zuzuwenden. Man achtet mehr auf sich, hat vielleicht ein gesünderes Leben, auch wenn das nicht leicht ist. Ich habe unlängst erst eine Gesundenuntersuchung gemacht und bin so fit, das gibt’s gar nicht. Das will ich ja gar nicht hören, dass ich ein langes und so gesundes Leben haben werde. Ich mag gar nicht lange leben. Wenn ich topfit bleibe, dann ja. Ansonsten ist das keine besonders gute Aussicht.

Auch eine ganz spezielle Sicht der Dinge.
Ja, aber so war ich immer. Bei mir gibt es immer die helle und die dunkle Seite, das Yin und das Yang. Beide geben sich ständig die Hand. In der Zeit meiner dunkelsten Phase habe ich mit meiner damaligen Beziehung auch noch ein Kind gezeugt. Das ist jetzt sechs Jahre her und damit hätte ich nicht mehr gerechnet. Es war ein Kind der Liebe und das genaue Gegenteil von dem, was ich da gerade erlebte. Alles zur gleichen Zeit – das kann einen wahnsinnig machen.

Die Dualität des Lebens ist ein wiederkehrendes Thema in den Liedern auf deinem Album. Es gibt ruhige, in sich geschlossene Piano-Momente und austrabenden Indie-Rock. Dunkle Texte und alles umarmende Texte. Wolltest du ein Album voller Gegensätze erschaffen?
Das war keine bewusste Entscheidung. Man kann ganz sklavisch Lieder schreiben, Tag für Tag, indem man sich diszipliniert hinsetzt. Das ist ein guter Weg, aber auch zunehmend enervierend. Nach zwei, drei Monaten bewegt man sich damit im Kreis. Manchmal kommt aber auch eine Melodie auf einen zugeflogen. Sie ist da und ich konnte mir das nicht aussuchen – weiß auch nicht, woher sie kommt. Ich setze mich jedenfalls nicht hin und nehme mir vor, dass ich heute Abend eine Ballade schreibe. Wenn es mir schlecht geht, kommt ein bestimmtes Gefühl und das geht in die Musik rein. Mehr ist da nicht. Der Auftaktsong ist sehr fröhlich und groß, den habe ich zugelassen. Dann gibt es eine andere oder auch ein Free-Jazz-Saxofonsolo. Auch das finde ich schön, ich bin ja Beatles-geschult.

Deshalb auch der Song „Blackbird“?
Patrick Wagner von Gewalt hat im Studio einmal gezeigt, was er zu diesem Album fühlt. Er hat das so pantomimisch nachgestellt, dass da die Riesen kommen oder die Golems und all das in Zeitlupe. Hätten wir das Ganze dokumentiert, hätte das Video sicher schon zwei Milliarden Klicks. (lacht) Da hätten wir eine „Herr der Ringe“-Umsetzung visualisieren können. Ich mag Musik, der man Redundanz vorwirft. Wahnsinnige einfache Musik. Ich bin 58 und genieße die Frühwerke der Rockgrößen wie „Back In Black“ von AC/DC. Bei denen hat sich über all die Jahre eigentlich nichts verändert. Ich mag aber auch Musik mit ganz unterschiedlichen Stimmungen und Temperaturen.

Beides ist wichtig und beides ist auf deinem Album „Lights“ vorhanden. Ist der Song „Go Away“ eine Aufforderung an den Krebs?
Nein, aber das kannst du ruhig so interpretieren. Ich habe die meisten Lieder relativ spät geschrieben, weil ich so viel verworfen habe.

Warst du in der jüngeren Vergangenheit in einem regelrechten Kompositionsrausch? Und kommt das Thema Reue oft vor?
Es gibt immer die naive Fragestellung: warum ich? Was habe ich falsch gemacht? Eigentlich ist das Blödsinn, aber man kann es nicht abwehren. Die katholische Kirche behauptet, wir kommen alle als schuld befreites, völlig neues Wesen auf die Welt, um dort zu existieren. Manche Menschen schaffen es, ihrem Leben einen Sinn zu geben, andere nicht.

Führt das Zweifeln zu jenen Momenten, wo man sich doch an einen Glauben hangelt und sich ihm hingibt?
Ich bin überzeugt von der Bestimmbarkeit eines jeden Menschen und dass jede Form der Spiritualität ein Hindernis ist. So wie klassische Religionen. Oft frage ich mich, warum ich so wahnsinnig abgebrüht bin und warum ich nicht verstehe, dass jetzt gerade dieses oder jenes passiert. Das kennt jeder, dass man sich fragt, warum etwas gerade jetzt so ist?

Oder die Frage: Warum passiert ausgerechnet mir so etwas? Die Frage, die man stellt, wenn man das Leben gerade nicht fassen kann. Das kann auch im Positiven passieren, wenn die Leute nicht wissen, warum alles aufgeht. Ist die Musik für dich immer eine Suche nach Antworten auf Fragen, die das Leben ständig aufwirft?
Ich habe Musik nie so empfunden, dass sie irgendwelche Fragen beantwortet oder Rätsel löst. Oft ist es einfach nur das klassische von der Seele schreiben. Ich glaube auch nicht an den reinigenden Prozess durch Kreativität. Ich bin dankbar dafür, in dieser Welt arbeiten zu können, weil ich sehr empathisch bin. Ich glaube an die Kreativität von jedem Einzelnen in dieser Welt und dass die Gesellschaft uns diese Kreativität verleidet. Die Menschen dürsten danach, einen kreativen Ausfluss zu haben, sich aus dem System zu katapultieren, weil es dadurch einfach besser geht. Manche belegen einen Töpferkurs und das meine ich auch nicht zynisch. Es ist nicht bemitleidenswert, sondern wunderschön. Es gibt wahrscheinlich zwei Milliarden Tonkrüge auf der Welt und kein Mensch braucht noch einen, aber wenn die betreffende Person das in dem Moment als toll empfindet, finde ich das richtig cool.

Die Menschen sehnen sich nach dem Echten, weil wir alle in einer digitalen Welt wohnen. Sie hängen sich regelrecht an Erlebnisse, die im Analogen stattfinden. 
In der digitalen Welt sind wir alle verloren. Da kann mir niemand etwas anderes erzählen. Man sitzt zu zweit da und jeder hängt 45 Minuten am Handy. Da ist auch völlig egal, in welcher Generation. 65-Jährigen geht es da nicht anders. Dann leben wir noch in einer Welt, die immer auf Leistung abzielt. Stehe um sechs in der Früh auf, gehe eine Runde joggen, dann zum Pilates und dann erst einmal zehn Stunden ins Büro. Die Menschen haben immer seltener andere Menschen um sich, weil sie so viel Zeit für den Tagesplan, ihr Keto-Essen und jeden einzelnen Programmpunkt aufwenden müssen. Alles muss supergesund und supereffizient sein und alle müssen jung bleiben, demselben Schönheitsideal entsprechen und ein möglichst genormtes Leben führen. Doch tief im Inneren sehnt sich jeder nach einer stillen Tätigkeit, wo man sich nicht alles abverlangen muss. Kein normaler Mensch betreibt neben der Arbeit vier Stunden Sport am Tag. Wo führt das hin? Ich habe mein Leben lang an mir gearbeitet, nur damit ich 100 Jahre alt werde? Für mich ist das eine ungute Vorstellung.

Kommt daher deine Ansicht, dass du lieber kürzer, aber für dich schöner leben möchtest?
Ich bin nicht James Dean oder Jim Morrison, für den „Club 27“ bin ich mittlerweile viel zu alt. Wenn man es schafft, eine möglichst lange Zeit auf diesem Planeten zu bleiben, um dann am letzten Tag, bei der Rückschau, behaupten zu können, man habe ein erfülltes und schönes Leben gehabt, dann hat man gewonnen. Da ist es dann auch wuascht, ob du viel oder wenig Geld auf deinem Konto gesammelt hast.

Am Ende kommt bei vielen Menschen eine traurige Erkenntnis.
Und viel Bedauern, die Zeit falsch eingesetzt zu haben. Zu wenig Zeit für die Kinder, zu viel Zeit für die Arbeit. Manche schaffen, schaffen, schaffen und schaffen und verzichten nebenbei ganz auf das klassische Leben an sich. Auf das, was das Leben ausmacht. Ich würde mir selbst und allen anderen wünschen, dass sie am letzten Tag ihres Lebens nichts bedauern müssen.

Ist „Lights“ ein musikalisches Statement gegen den permanenten Selbstoptimierungswahn? Es geht auf dem Album um Gefühle, um Rückschläge, um die Liebe und die Zwischenmenschlichkeit. All das, was im Alltag viel zu oft hängenbleibt.
Das hast du schön zusammengefasst. Das Album ist kein bewusster Befreiungsschlag oder eine Antithese dazu, aber es ist ein bisschen wie im Lied „We Could Be Beautiful“. Da geht es um das Leben in der Gemeinschaft und eine Wertegesellschaft. Wie gehen wir damit um und achten darauf, nicht noch mehr in die Bredouille zu kommen? Anscheinend haben Hass und Niedertracht irgendwann gewonnen. Am Ende wollen wir doch, dass die Guten gewinnen, aber an dieser Weggabelung waren wir als Gesellschaft schon ein paarmal.

Schwingt aber trotzdem auch die Botschaft mit, dass auf der Welt nicht alles zwingend so laufen muss, wie es gerade läuft? Dass einem Oliver Welter oder Naked Lunch schon etwas auf den Weg mitgeben können?
Ich sehe mich nicht als Missionar und habe auch keinen solchen Auftrag. Ich mag Musik nicht so gerne, die bewusst Messages versendet. Bob Dylan hat sich auch nicht als politischer Sänger inszeniert, seine Statements waren vielmehr seine Sicht der Welt. Niemand auf der Welt wird die neue Naked Lunch hören und dann sagen: „Ah, ich verstehe jetzt, wie die Dinge funktionieren“. Diesen Anspruch habe ich nicht. Mir geht es vor allem darum, aufrecht gehend durch diese Welt zu kommen und dabei nicht auf meine Umwelt zu vergessen. Ich will Dinge tun, die ich gerne mache, mit Menschen, die ich gerne habe und bewusst mit all diesen Themen umgehen.

Aus welcher Euphorie ist eigentlich dieser lebensbejahende Opener „To All And Everyone I Love“ entstanden?
Aus einer großen. (lacht) Ich habe kein klassisches Textnarrativ dafür verwendet, sondern so eine Art Mosaik gebildet, das man zusammenbauen kann.

Hast du öfters so euphorische Momente neben tiefdunklen Phasen?
In diesem Jahr nicht so, aber ich merke an mir oft, dass ich die Euphorie bei Menschen zunehmend vermisse. Ich bin zum Beispiel ein riesengroßer Fan. Also wenn ich von etwas oder jemandem Fan bin, dann so richtig. Mit Haut und Haaren. Ob das jetzt eine Band ist, ein Fußballverein oder ein bestimmtes Album. Diesen Zustand der Euphorie, der damit einhergeht, den finde ich super.

Ist man in der Gesellschaft heut besonders euphorisch oder zeigt Begeisterung, wird man oft auch als Sonderling angesehen. Ist es nicht sonderbar, dass das, was das Leben eigentlich ausmacht, nämlich grenzenlose Euphorie, von der Masse erstickt zu werden scheint?
So muss es aber nicht sein. Leidenschaft, Hingabe, Euphorie – allesamt so schöne Begriffe. Die Welt an sich gibt uns nicht allzu viel Anlass, um euphorisch zu sein, aber jeder kann in seinem Alltag das Euphorische finden. Man muss halt nur wollen. Nicht nur dem Wiener, sondern dem Menschen generell ist es gegeben, nicht nur zu nörgeln, sondern auch mal die Augen aufzumachen und die Welt anders zu sehen. (lacht)

Am Wiener und seinem Grant hängt aber auch viel Show dran.
Das ist ja das Schöne am Wienerischen, die Show.

Eine Nummer auf deinem Album heißt „If This Is The Last Song You Can Hear”. Was wäre der letzte Song deines Lebens, wenn du ihn dir aussuchen könntest?
„Heroes“ von David Bowie – das ist für mich der beste Popsong, der je geschrieben wurde. Auch der besteht aus Euphorie pur, und zwar von der ersten Sekunde weg. Ich kenne das Lied in vielen Versionen. Es gibt auch schreckliche, verschärfte, aber das Original ist große Kunst. Ein unpackbares Lied, Bowie hat damit alles richtig gemacht.

Ist es für einen Songwriter immer das Ziel, im Leben so eine Nummer zu schreiben? Zumindest für sich, also, dass man zu 100 Prozent glücklich ist mit einem Lied?
Es ist sicher ein Ziel, aber ob es mein persönliches ist? Mit ein, zwei Nummern in meinem Leben bin ich schon sehr glücklich. Rick Rubin hat ja gesagt, man muss jedes Mal danach trachten, das beste Album des Lebens zu schreiben, weil man ohnehin immer daran scheitern wird. Aber trotz alledem – man muss es ständig probieren. Ich bin mit „Lights“ zufrieden, aber es ist trotzdem nicht das beste Album aller Zeiten.

Ist es dein bestes Album aller Zeiten?
Das kann ich nicht sagen, das müssen andere beurteilen. Ich finde, es ist ein gutes Album zur richtigen Zeit.

Du hast anfangs diese schrägen Saxofonmomente angesprochen – öffnest du dir damit eine Tür für deine musikalische Zukunft?
So improvisierte Musik kann ich mir schon gut vorstellen, vielleicht unter einem anderen Namen.

Im Jänner präsentierst du „Lights“ auf Tour in ganz Österreich. Wie arrangierst du dieses neue Album und mischt es live mit den alten? Theoretisch würde es das neue Werk auch hergeben, in einem Stück runtergespielt zu werden …
Das ist aber jetzt nicht möglich. Wir haben schon geprobt, sind eine fünfköpfige Band und es funktioniert alles schon ganz gut. Ich spiele auch ein paar alte Songs und Hits wirklich gerne.

Das ist auch keine Selbstverständlichkeit, dass ein Musiker zugibt, er würde seine Hits live gerne spielen …
Dass Mick Jagger keinen Bock mehr auf „Satisfaction“ hat, das kann ich schon verstehen – das ist ja auch eine ganz andere Nummer, aber ich bin mit meinen ganz im Reinen. Und froh, dass es ein paar gibt.

Tour durch Österreich
Oliver Welter wird mit seinen runderneuerten Naked Lunch im Jänner auf große Österreich-Tour gehen, um neben dem neuen Album auch die Hits vergangener Tage zu zelebrieren. Bislang fixiert sind: 17. Jänner Kino Ebensee, 22. Jänner Arena Wien, 23. Jänner ppc Graz, 29. Jänner Innsbrucker Treibhaus, 30. Jänner Spielboden Dornbirn, 31. Jänner ARGEKultur in Salzburg, 6. März Röda in Steyr und am 22. Mai beim Klagenfurt Festival.

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