Obdachlosen-Seelsorger

„Jeder hat einen würdigen Abschied verdient“

Oberösterreich
17.10.2025 17:00

Er kommt aus der Finanzbranche, hat im zweiten Bildungsweg Theologie studiert und ist seit vergangenem Herbst Obdachlosenseelsorger in Linz. Der „Krone“ hat Julian Kapeller (33) erzählt, was Seelsorge für Menschen auf der Straße leisten kann und was die Bibel zu Alkohol- und Drogenkonsum sagt.

„Krone“: Herr Kapeller, Sie sind seit einem Jahr der Obdachlosenseelsorger von Linz. Ist christlicher Beistand nicht das Letzte, was Obdachlose brauchen?
Julian Kapeller: Es ist wichtig, zwischen materieller und sozialer Armut zu unterscheiden. Materielle Armut hat Vorrang, denn ohne Essen, Gewand und Dach über dem Kopf ist es lebensbedrohlich. Aber auf lange Sicht lebt der Mensch nicht vom Brot allein. Es braucht Begegnung, Anerkennung und Hoffnung. Themen wie Einsamkeit, Scham und Ausgrenzung verdienen genauso Beachtung. Ich würde das nicht gegeneinander ausspielen, jede Form von Armut kann schlimm sein.

„Krone“: Wie schaut Ihre Arbeit aus? Wo kommen Sie mit den Obdachlosen in Kontakt, und was bieten Sie an?
Kapeller: Ich bin kein Streetworker, der in Linz herumgeht und die Leute auf der Straße anquatscht. Ich gehe in die Tageszentren, bin dort präsent, suche mir ein ruhiges Plätzchen und lade ein, sich zu mir zu setzen und sich Dinge von der Seele zu reden.

„Krone“: Haben nicht viele Obdachlose längst den Glauben an Gott verloren?Kapller: Tatsächlich ist es so, dass viele Menschen mit denen ich rede, einen sehr starken Glauben haben, eine starke Spiritualität.

„Krone“: Wie ist Ihre Bilanz nach dem ersten Jahr? Gibt es Erlebnisse, die besonders in Erinnerung geblieben sind?
Kapeller: Am prägendsten ist diese Erfahrung, wenn die Obdachlosen zu realen Menschen werden. Man hört immer wieder, dass es jeden treffen kann, aber wenn man sich dann die Lebensgeschichten anhört, weiß man, dass das stimmt.

Seelsorger Kapeller in der Pfarrkirche Hl. Familie.
Seelsorger Kapeller in der Pfarrkirche Hl. Familie.(Bild: Horst Einöder/Flashpictures)

„Krone“: Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür. Müssten die Kirchen im Winter nicht die Türen für Obdachlose öffnen?
Kapller: Die Sache ist ein bisschen komplexer. Es braucht nicht nur Betten, es braucht auch Betreuung. Da reicht es leider nicht, wenn man die Kirche aufsperrt und sagt: „Legt auch hinein“. Der eine oder andere würde das Angebot vielleicht nutzen, aber ich halte es für keine pauschale Lösung.

„Krone“: Sie sind auch für Begräbnisse zuständig. Was passiert, wenn ein Obdachloser stirbt?
Kapeller: Wenn sich zeigt, dass es Verbindungen zum Milieu gibt, werde ich kontaktiert. Ich gestalte die Verabschiedungsfeier im Urnenhain. Es ist oft herausfordernd, etwas über den Verstorbenen herauszufinden, da muss ich mich durchfragen, um Biografien zu rekonstruieren. Ich will nichts verklärend beschönigen, sondern den Menschen ein letztes Mal so zeigen, wie er war. Jeder hat einen würdigen Abschied verdient. Das passiert teils im kleinen Rahmen, manchmal kommen viele Leute. Einmal war ich aber mit dem Verstorbenen ganz alleine.

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Jeder hat einen würdigen Abschied verdient.

Julian Kapeller, Obdachlosenseelsorger

„Krone“: Viele Obdachlose haben ein zerrüttetes Verhältnis zur Familie. Ist das dann Thema?
Kapeller: Das kann man schwer pauschal sagen, aber der Tod wirft nochmals neues Licht aufs Leben. Es werden keine Dinge ungeschehen gemacht, aber erst letztens hatte ich einen Sohn, der schon ewig keinen Kontakt mit dem Vater mehr hatte. Er kam zum Begräbnis und wollte dort auch etwas sagen. Das war keine Lobrede an den besten Vater der Welt, aber ein anerkennendes Sehen, dass der Verstorbene sein Bestes versucht hat.

Die „Krone“ hat den 33-Jährigen in Linz getroffen.
Die „Krone“ hat den 33-Jährigen in Linz getroffen.(Bild: Horst Einöder/Flashpictures)

„Krone“: Geht das nahe, wenn niemand zum Begräbnis kommt?
Kapller: Ich weiß, wie schwierig es ist, in diesen Kreisen von Terminen zu erfahren oder sich das Bim-Ticket nach Urfahr leisten zu können. Es ist natürlich traurig, wenn wenige Leute da sind, aber den Erfolg eines Lebens kann man nicht an der Anzahl der Trauergäste festmachen.

„Krone“: Viele Obdachlose konsumieren Alkohol und Drogen. Was sagt eigentlich die Bibel zu dem Thema?
Kapeller: Ich würde das als Krankheit sehen und nicht als sündiges Verhalten. Wenn man die Biografien kennt, versteht man, dass manche etwas suchen, mit dem sie den Schmerz und das Leid behandeln können.

„Krone“: Sie sind auch Jugendbeauftragter für das Dekanat Ottensheim? Vergangenes Jahr gab es in Oberösterreich rund 12.700 Kirchenaustritte. Was brauchen die Jungen, damit Kirche attraktiv bleibt?
Kapeller: Meiner Erfahrung nach ist die Jugend gerade komplett anders als in den vergangenen Jahren. Die neue Generation hat nie schlechte Erfahrungen mit Kirche gemacht, und die Jugendlichen erleben derzeit eine neue Offenheit gegenüber Kirche und Spiritualität. Was sie brauchen, sind authentische Glaubensvorbilder.

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Der Erfolg eines Lebens lässt sich nicht an der Anzahl der Trauergäste festmachen.

Julian Kapeller, Obdachlosen-Seelsorger

„Krone“: Sie sind studierter Theologe. Haben Sie je das Priesteramt angestrebt?
Kapeller: Da hätte meine Freundin etwas dagegen. Natürlich habe ich mit dem Gedanken gespielt, aber für mich und mein Leben spielt es keine Rolle.

„Krone“: War Jesus eigentlich auch ein Obdachloser?
Kapeller: Jesus war ein Wanderprediger ohne festen Wohnsitz. Doch Obdachlosigkeit im heutigen Sinn meint mehr, zum Beispiel fehlende Rechte, Unterstützung, Teilhabe. Entscheidend ist für mich nicht, wie Jesus gewohnt hat, sondern was er gelehrt hat: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das ist eine klare Botschaft und ein Auftrag: In jedem obdachlosen Menschen begegnen wir auch Gott.

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