„Krone“-Gespräch

Ruth Lyon: Zwischen Gedichten und Erinnerungen

Musik
22.07.2025 09:00

Im März machte die Britin Ruth Lyon im Vorprogramm von Zaho de Sagazan im Wiener Gasometer das erste Mal auf sich aufmerksam – nun folgte das Debütalbum „Poems & Non Fiction“. Der „Krone“ erzählt die Sängerin aus Newcastle, was sie sich vom Herzen schrieb, warum Twitter-Frechheit siegt und was Gedichte mit dem echten Leben zu tun haben.

kmm

Wer sich vor wenigen Monaten früh genug beim Gasometer-Konzert der global gehypten französischen Elektronikerin Zaho de Sagazan einfand, wurde Zeuge eines weiteren mitreißenden Auftritts einer Britin namens Ruth Lyon. Sie wählte für ihre musikalische Ausdrucksweise eine Art von bedächtigem Kammer-Pop mit Barock-Pop-Anleihen und Folk-Elementen, was aber nicht immer der Fall war. Bevor Ruth Lyon als Ruth Lyon die Bühne betrat, hat sie schon eine respektable Karriere als Bandmitglied von Holy Moly & The Crackers hingelegt. Mit der Folk-Punk-Band spielte sie gut zehn Jahre lang landauf, landab alle möglichen Festivals und machte einmal sogar in der kleinen Halle der Wiener Arena Station. „Ich erinnere mich noch gut daran“, schmunzelt sie im „Krone“-Interview beim de-Sagazan-Konzert, „die Wände im Backstagebereich waren voller Poster und es herrschte eine zeitlose Stimmung. Außerdem fuhren wir mit dem Bus durch Wien und die Architektur hat mich beeindruckt.“

Schicksalshafte Kooperation
Der Umschwung vom Bandmitglied zur Solokünstlerin kam – wie so oft – durch die Pandemie. „Wir waren ständig auf Tour und dieser Teil meines Lebens brach weg. Außerdem habe ich meine musikalische Laufbahn als Kind auf der Klarinette und dem Klavier im klassischen Segment begonnen. Ich habe zunehmend Lust bekommen, mich auf diese Wurzeln zu besinnen und wollte klanglich ohnehin in eine andere Richtung gehen.“ Ein weiterer Meilenstein in Lyons noch junger Karriere ist die Kooperation mit John Parish. Den Briten kennt man als Erfolgsproduzenten von honorigen Indie-Acts wie PJ Harvey, den Eels, Tracy Chapman oder Giant Sand - nicht zuletzt Idole von Lyon selbst. „Vor allem PJ Harvey war für mich unheimlich wichtig. Ich habe John irgendwann eine Nachricht via Twitter geschickt. Ganz naiv und unschuldig und ihm dabei geschmeichelt, weil ich seine Arbeit liebe. Er antwortete mir, dass wir gemeinsam arbeiten sollten und so entstand meine EP und jetzt mein Album.“

Besagtes Album nennt sich „Poems & Non Fiction“ und der Titel greift in seiner bewussten Gegensätzlichkeit genau in das vielseitige Leben der Musikerin ein. Gerade die Welt der Gedichte hat es Lyon schon immer angetan. „Für mich war die Poesie früher immer sehr unzugänglich. Etwas für die großen Geister und clevere Menschen – ich habe viel davon nicht verstanden. Geholfen hat mir dann die Szene in meiner Heimatstadt Newcastle. Dort wird Poesie auch niederschwellig vermittelt, jeder kann daran teilhaben und seine Kreativität für sich herausziehen. Ich habe so viele Ideen und Textstücke gesammelt, die mir für das Songwriting extrem dienlich waren. Das Leben ist auch nichts anderes als eine Häufung von verschiedenen Gedichten zu verschiedenen Geschichten von früher. Wir romantisieren schließlich gerne unsere Erinnerungen, woraus dieses ,Früher war alles besser‘-Klischee entstand. Gedichte haben auch etwas Romantisches und passen gut in die Welt der Musik.“

Messie der Erinnerungen
Lyons Songtitel bestehen nur aus einem Wort, kommen damit entweder gleich auf den Punkt oder sind unterschiedlich zu verstehen. Es geht um Liebe, Beziehungen und Enttäuschungen, aber auch um Bücher, die Welt der Fantasie und die Querverstrebungen zwischen Poesie, Literatur und dem realen Leben. „Fiktionales und Nichtfiktionales sind sich oft näher, als manche Menschen glauben würden“, präzisiert die Musikerin, „es ist so, als würden wir einerseits entscheiden, wie wir leben und andererseits entscheiden, welche Art von Leben von uns wir gerne aufzeichnen würden. Ich bin ein kleiner Messie und sammle alles, was ich in die Finger kriege. Aber jedes einzelne dieser Teile ist auch ein Part der persönlichen Erinnerung. Jedes Teil erinnert mich an eine bestimmte Situation in meinem Leben und erweckt die Nostalgie – das wiederum führt zu Songs. Das Album ist ein bisschen wie der Eintritt in ein Tagebuch – nur dass man das Tagebuch dann mithilfe der Songs selbst schreiben kann.“

Lyon ist nicht nur eine famose Musikerin, sondern auch ein Sprachrohr für beeinträchtigte Personen. Im Alter von 15 Jahren wurde bei ihr juvenile rheumatoide Arthritis diagnostiziert, was zu konstanten Schmerzen führte. Anfangs brauchte sie einen Gehstock, später einen Rollstuhl. Das hat ihren Traum vom Musikertum aber maximal kurz belastet und keineswegs zerstört. Heute tritt sie gerne bei Diskussionen und Panels auf, spricht von ihren Erfahrungen und motiviert Menschen mit ähnlichen Schicksalen, ihren Träumen zu folgen. Als ständig tourende Musikerin findet sie rundum Ansätze, wie man die Gegebenheiten für beeinträchtigte Personen in unterschiedlichen Konzertvenues verbessern kann. „Ich schreibe bewusst keine Songs, die direkt auf das Thema ansprechen, aber finde es wichtig, die Emotionen und Gefühle von Menschen mit Beeinträchtigungen festzuhalten. Mein Schicksal ist kein wichtiger Teil meiner Musik, aber ein wichtiger Teil von mir als Person. Können sich andere darin finden, freut mich das sehr.“

Emotionale Bindung
Lyons Debütwerk ist nicht nur ein zartes Kammerpop-Manifest, es ist vor allem auch eine berührende, semiautobiografische Geschichte über Hingabe, Liebe und Resilienz. Die Energie und der Aufwand, den Lyon in dieses Werk gesteckt hat, hinterließ bei ihr Spuren. „Als ich das fertige Album das erste Mal durchhörte, habe ich fast durchgehend geweint. Es fühlte sich so an, als würde ich einer Konversation meines alten Selbst lauschen. Zwei weitere Monate später habe ich das Album dann wieder gehört und mir wurde klar, wie wichtig es war, um mich weiterentwickeln zu können. In meiner Stimme liegt sehr viel Emotion und John hat es geschafft, sie mit seiner Produktion noch greifbarer zu gestalten. Mir wurde bewusst, wie viel Herzblut und Arbeit in diesem Werk steckt, das eine sehr lange Reise hinter sich hatte, bevor es überhaupt zu den Menschen kam.“ Im Herbst spielt Lyon mit „Poems & Non Fiction“ ein paar Headliner-Konzerte in Europa – leider ohne Österreich-Termin.

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