Russin gesteht:
„Bei Protesten zittere ich vor Wut und Angst“
Im immer autoritärer regierten Russland drohen bekanntlich mittlerweile für harmlos anmutende kritische Äußerungen viele Jahre qualvoller Lagerhaft. Dennoch wagten sich am Sonntag zahlreiche mutige Menschen für die Protestaktion „Mittag gegen Putin“ auf die Straße. Es ist ein Hilfeschrei. Denn die Russen fühlen sich im Stich gelassen und hoffen auf mehr Unterstützung von außen.
„Zur Teilnahme an der Aktion hat mich der Aufruf von (Alexej) Nawalny und anderen Oppositionellen bewogen. Es war eine Möglichkeit, Zeit mit guten Menschen zu verbringen. Und es ist das Einzige, was bei diesen Wahlen, deren Ergebnisse zur Gänze manipuliert wurden, Sinn machte. Vor lauter Stolz und Freude flossen Tränen – trotz all der Umstände sind die Leute gekommen. Alle haben sich umgesehen: Wir waren so viele“, schilderte ein Mann aus Moskau dem Exilmedium „Meduza“.
Um Punkt 12 Uhr Mittag hatten sich Russen am Sonntag vor Wahllokalen zur Oppositionskundgebung „Mittag gegen Putin“ zusammengefunden. Kreml-Propagandisten versuchten Ausreden zu finden. Die einen behaupteten, es habe ständig Schlangen gegeben, während die anderen oberklug von sich gaben, dass die Aktion dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Respekt zolle. Aber was ist da wirklich vor sich gegangen? „Meduza“ hat spannende Einblicke gesammelt.
Keine Hoffnung auf Veränderungen
„Ich habe es so satt, mich ständig umzuschauen und zu denken: Gott behüte, ich darf ja nichts Falsches sagen; bei Protesten zittere ich vor Wut und Angst, gemischt mit Selbstverachtung, weil ich aus Angst um mein Leben nicht demonstrieren gehe“, gesteht Sofia aus Moskau.
„Es ist klar, dass das nichts ändern wird“ konstatierte Nika aus Moskau nüchtern. Aber irgendetwas müsse sie doch tun. „Es war wichtig, Leute zu sehen, die so sind wie ich. Leute, die sich nicht über Krieg und das Morden freuen, die nicht auf die ganze Welt beleidigt sind und keiner abstrakten und im 21. Jahrhundert überhaupt nicht lebensfähigen Ideologie folgen.“ Zumindest einen kleinen Hauch von Freiheit habe sie gebraucht, um nicht verrückt zu werden.
Viele wollen keinen Krieg
„Ich wollte zeigen, dass es viele von uns gibt und wir keine Angst haben. Wir werden für einen friedlichen Himmel und ein freies Russland kämpfen. Wir werden in die Fußstapfen des Helden Russlands Alexej Nawalny treten“, schilderte Wita aus der Oblast Moskau. Sie wolle in einem demokratischen Land leben, das keine Nachbarstaaten angreift, wo man sich um alle Bevölkerungsschichten kümmere und an der wirtschaftlichen Entwicklung arbeite. „Wo man seine Meinung ausdrücken kann. Und, dass meine Kinder auch in so einem Land leben können.“
Alle Altersgruppen waren vertreten
Um 11.50 Uhr seien schon ziemlich viele Menschen da gewesen. „Um Punkt 12 stürmten sie hinein. Es waren wirklich alle Altersgruppen vertreten: Mütter mit Kindern, Männer [mittleren Alters], Studenten und Pensionisten“, berichtete Wita. Sie trug einen Haarreifen mit gelben Enten im Haar. Für uns Österreicher mag dies vielleicht nicht der Rede wert sein. Gelb erinnert viele Russen jedoch an die ukrainische Flagge beziehungsweise wird in Moskau mittlerweile nichts mehr gerne gesehen, das aus der Masse heraussticht.
„Ein Polizist hat mich sofort zu filmen begonnen. Dann kam er auf mich zu und fragte nach meinem Pass. …. Er ist mir bis zur Wahlkabine nachgegangen und hat mich dann über Stockwerke verfolgt – mit Fragen, wo ich hingehe und was ich vorhabe. Er meinte, der Ausgang sei hier.“ Nach dem Verlassen des Gebäudes sei er der Frau weiter nachgegangen. „Er hat mich dauernd gefilmt. Ich habe ihm Herzchen in die Kamera gezeigt – was hätte ich sonst tun sollen? Ich habe wundervolle Menschen kennengelernt und Einheit und Hoffnung verspürt. Liebe ist stärker als Angst. Den Haarreifen mit den Enten hebe ich mir noch für später auf – er scheint ein wichtiges Accessoire zu sein“, schloss Wita mit einem Augenzwinkern.











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