Ex-General packt aus

Riesiger Armee-Skandal erschüttert die Türkei

Ausland
24.08.2011 14:30
Militärische Vorgesetzte, die ihre Leute mitten im Gefecht im Stich lassen. Einheiten, die Minenfelder anlegen, ohne zu notieren, wo sich die Sprengsätze befinden. Soldaten, die bei grundlosen Schießereien von der eigenen Truppe getötet werden. Eine Armeeführung, die dank modernster Technik fast in Echtzeit einen Rebellenangriff auf einen Militärposten mitverfolgen kann, dann aber unfähig ist, etwas zu tun - sieben Soldaten sterben. "Unser Zustand ist eine komplette Schande", sagt einer, der es wissen muss. Sein Name: Isik Kosaner, bis vor Kurzem türkischer Generalstabschef.

So ungeschönt hat noch kein Uniformierter über Fehler, Feigheit, Ausbildungsmängel und Schlampereien bei den türkischen Streitkräften geredet. Kosaner tat es kurz vor seinem Rücktritt Ende Juli, und er fühlte sich sicher: Er hielt seine nicht-öffentliche Rede vor Offizieren.

Tonaufnahme von Abschiedsrede
Doch mindestens einer der Zuhörer ließ ein Bandgerät oder ein Handy mitlaufen und stellte die Tonaufnahme ins Internet. Nur kurz war das Dokument dort zu hören, doch die türkischen Medien hatten genug Zeit für eine Abschrift. So landete Kosaner wider Willen am Mittwoch auf den Titelseiten fast aller Zeitungen. "Unglaubliche Geständnisse" verkündete das regierungsnahe und Armee-kritische Blatt "Zaman", von "schmerzlichen Eingeständnissen" war bei der den Streitkräften etwas gewogeneren "Hürriyet" zu lesen. "Skandal", hieß es bei "Bugün".

Eindringlich und ohne die sonst üblichen Floskeln von den "heldenhaften Streitkräften" redete sich Kosaner seinen Frust von der Seele. Er berichtete von Soldaten, die von Minen zerfetzt wurden, von gedankenloser Ballerei, vom Chaos in der Befehlskette, von einem Mangel an Training und Koordination. Exponierte Stellungen der Armee im Südosten der Türkei seien so auffällig angelegt worden, dass sie den PKK-Kämpfern bequeme Ziele geboten hätten. Die professionelle Bekämpfung einer Rebellenorganisation mit fast 30 Jahren Erfahrung sieht anders aus.

Aufdeckungen der Presse indirekt bestätigt
Schmerzlich waren die Worte des Ex-Generals vor allem für jene Familien in der Türkei, die in den letzten Jahrzehnten ihre Söhne als Wehrpflichtige bei der Gewalt im Kurdengebiet verloren haben. Erst seit relativ kurzer Zeit gibt es in der Presse hin und wieder Berichte über Verfehlungen der Militärs. So wurde der Armeeführung vorgeworfen, sie sei im Juli vergangenen Jahres dank der Bilder unbemannter Aufklärungsflugzeuge rechtzeitig über einen PKK-Angriff auf eine Militärstellung im südostanatolischen Hantepe informiert worden, habe aber nicht schnell genug reagiert. Damals wies die Armee alle Vorwürfe zurück. Jetzt bestätigte Kosaner die Kritiker.

Die Geständnisse des Generals erhöhen den Druck auf die politisch ohnehin schon stark geschwächte Armee. Der Skandal um die Äußerungen ist zudem ein Zeichen für das wachsende Selbstbewusstsein der zivilen Öffentlichkeit, in der bis vor Kurzem jede Kritik an den Generälen tabu war.

Prozess der "Demystifizierung der Streitkräfte"
"Das wird das Image der Armee weiter untergraben", sagte der Kolumnist Yavuz Baydar. Die Türkei durchlaufe einen "Prozess der Demystifizierung der Streitkräfte", die lange als Institution ohne Fehl und Tadel galten, ganz anders als die Politiker mit ihren für alle sichtbaren Schwächen und Fehlern. Nun werde auch die Armee auf den Boden der Realität geholt, sagte Baydar. "Wir sind in den letzten Stadien dieses Prozesses."

Kosaner hat die "Demystifizierung" selbst kräftig vorangetrieben. Als er zusammen mit fast dem gesamten Rest des Generalstabs Ende Juli aus Protest gegen die Verhaftung von Offizieren im Zusammenhang mit Putschvorwürfen zurücktrat (siehe Infobox), wollte er die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bloßstellen und zum Einlenken bewegen. Der Plan schlug fehl, Erdogan beschaffte sich rasch einen neuen Generalstab, die Militärs erlitten eine weitere politische Niederlage.

"Auch der kleinste Fehler wird zur Schlagzeile ..."
Der Kampf gegen die PKK gehörte bisher zu den Kernaufgaben der türkischen Streitkräfte, doch Erdogan will künftig der Polizei eine größere Rolle geben. Die Entscheidung wird kritisiert, weil Sondereinheiten der Polizei in den 1990er-Jahren viele Verbrechen in Südostanatolien verübten. Die Regierung argumentiert, heutzutage funktioniere die öffentliche Kontrolle über die Sicherheitskräfte wesentlich besser.

Auch General Kosaner berichtete in seiner Rede von dieser Tendenz. Ausgerechnet in einer Ansprache, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht war, sagte der General, auch der kleinste Fehler der Armee komme an die Öffentlichkeit "und wird zur Schlagzeile". Wahrscheinlich wusste er nicht, wie recht er haben würde ...

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