Interview und Konzert

Ulrich Tukur: „Quoten nicht über Qualität stellen“

Wien ist leiwand
24.03.2022 10:00

Ulrich Tukur kennt man zuvorderst als „Tatort“-Kommissar und profunden Film- und Theaterschauspieler, der in Rollen zwischen NS- und DDR-Offizieren pendelt. Daneben ist der Lebemann aber auch Romanautor und leidenschaftlicher Musiker. Mit seinen Rhythmus Boys zelebriert er seine Liebe für die Musik der 20er- bis 40er-Jahre und gastiert am 26. und 27. März im Wiener Theater Akzent. Im ausführlichen Interview spricht er über seine 20 Jahre in Venedig, warum er die umstrittene #allesdichtmachen-Aktion vom letzten Frühling immer noch gut findet und weshalb ihn die gegenwärtige Welt anwidert.

„Krone“: Herr Tukur, die meisten Menschen kennen Sie aus Film, Fernsehen oder Theater. Am Wochenende kommen Sie mit Ihren Rhythmus Boys als Musiker zweimal ins Wiener Theater Akzent. Diese Leidenschaft scheint der Hauptprofession nicht unbedingt nachzustehen?
Ulrich Tukur:
Ganz und gar nicht. Mit der Musik fing eigentlich alles an. Ich habe Musik immer geliebt, Jazz und Swing sehr früh für mich entdeckt und viel Klavier gespielt. Über die Straßenmusik, die ich machte, als ich in Tübingen studierte, kam ich per Zufall zum Theater. Für mich blieb die Musik aber immer ein wunderbares Ventil, ein Ausgleich zu dem unsteten Leben, das ich über Jahre führte. Mit den Jungs aufzutreten und damit unmittelbar die Herzen der Menschen zu erreichen, war erfüllender als der Kraftakt eines Schauspielers, der sich stundenlang bemüht, aber niemals an das herankommt, was eine schöne Tenorstimme in zehn Sekunden schafft.

Als Schauspieler spielt man ständig eine Rolle, als Musiker ist man so authentisch wie möglich.
Naja. Es ist auf jeden Fall etwas anderes. Wir spielen aber eben nicht nur ein Konzert. Es kommen immer Elemente des Theaters, des Varietés hinzu, des höheren Blödsinns, so dass wir am Ende eine Form von Unterhaltung haben, die auf poetische Art alles Mögliche vermischt.

Sie können bis auf das Schriftstellerische in Ihrer Rolle als Musiker all Ihre künstlerischen Fertigkeiten auf der Bühne ausüben?
Eigentlich ja, aber es bleibt immer ein Risiko. Ich verstehe diejenigen nicht, die ihre Texte festlegen, alles fixieren und jeden Abend gleich ablaufen lassen. Unsere Auftritte und meine Ansagen sind spontan, verstiegen und manchmal gehen sie auch schief. Es hängt von mir selbst, der Magie des Augenblicks und der Reaktion des Publikums ab. Es ist mir wichtig, einen Abend zu kreieren, der den psychischen Aggregatszustand der Menschen ein wenig verändert. Man kann seinem Publikum auch mal unangenehme Themen unterjubeln, muss es aber immer auch verzaubern oder mindestens bei Laune halten. Molière sagte, die hervorragendste Aufgabe des Theaters sei, gut zu unterhalten.

Bringen Sie Fehler und Imperfektionen außer Tritt?
Im Gegenteil. Die Improvisation, die dann beginnt, schafft die wirklich authentischen Momente. Auf der Bühne habe ich früher gerne Hänger und Unfälle eingebaut, wenn ich merkte, der Abend dümpelt so dahin und alle haben sich bequem eingerichtet. Auf einmal war richtig was los!

1989 veröffentlichten Sie Ihr erstes Album „Tanzpalast“ - damals noch ohne die Rhythmus Boys. Welchen Stellenwert in Ihrem künstlerischen Leben hat Ihre Rolle als Pianist, Sänger und Akkordeonist?
Anfangs war das eher ein Witz. Ich hatte eine Studentenkapelle und wollte die Musik machen, die man damals nicht mehr spielte. Jazz, Swing, alte Schlager. Ich habe nie verstanden, dass man Künstlergenerationen, die uns ja erst möglich gemacht haben, so schnell vergisst. Ich liebte diese Welt der schwingenden Rhythmen, der hübschen Melodien, der originellen Texte und des eleganten Lebensgefühls. Ich wollte das irgendwie am Leben halten. Es war aber immer auch eine Mischung aus persönlichem Spaß und Freundschaft mit anderen Musikern, und neben Film und Theater wurde es mein drittes Standbein. Ohne Musik könnte ich nicht leben. Die Bühne, ob Theater oder Konzert, ist dein Abend. Man kann auch eine mittelmäßige Inszenierung zu einem unvergesslichen Moment machen. Bei Film und Fernsehen bist du Opfer der Kamera, der Regie und des Schnitts, und die Postproduktion macht mit dir, was sie will. Unten kommt immer etwas anderes heraus, als das, was du oben hineingegeben hast. Im schlimmsten Fall wirst du herausgeschnitten. Jeder kann sein Gesicht in die Kamera hängen, der halbwegs gut aussieht und sich einen Text merken kann. Aber vier Stunden lang einen Hamlet oder Peer Gynt zu spielen, das ist schon eher eine Leistung.

Dass Sie von der Musik alleine nicht leben könnten, fördert aber auch eine gewisse Zwanglosigkeit und Lockerheit im Tun zutage.
Richtig. Vermutlich könnten wir aber heute davon leben, wenn wir mal diese unsägliche Pandemie vergessen. Inzwischen spielen wir ja auch deutlich besser als wir aussehen. Das war früher umgekehrt. Aber es ist gut, dass wir nicht davon leben müssen. Uns würde die Leichtigkeit fehlen, die Verspieltheit, die so wichtig ist.

In diesem Projekt steckt neben der Leidenschaft an der Musik eure Freundschaft innerhalb der Band. Wahrscheinlich zu einem gleichen Teil?
Ulrich Mayer, unseren Gitarristen, kenne ich noch aus dem Germanistikstudium. Wir waren zu faul, um eine Seminararbeit über Kurt Tucholsky zu machen und haben dann einfach einige seiner Chansons zum Besten gegeben. Das kam so gut an, dass der Seminarleiter meinte, wir sollten damit auf die Straße gehen. Das haben wir dann auch getan, und so kam alles ins Rollen. Diese Freundschaft besteht bis heute, und das ist sehr schön. Ich mache diesen Blödsinn seit 1978 mit ihm, unglaublich.

Solange es die Rolling Stones noch gibt, kann man sich aber schwer als „älteste Boygroup der Welt“ bezeichnen.
(lacht) Stimmt. Ich weiß nicht mehr, wer diese Bezeichnung verbrochen hat, einer dieser Witze, die dann an einem kleben bleiben. Trotzdem sind wir fast so haltbar wie die Stones, vier Typen, ein Sound, aber im Gegensatz zu denen leben wir alle noch. Von Peter Zadek bekam ich als junger Schauspieler den Rat, beim Spiel in die Augen des Partners zu schauen und immer darauf zu achten, was die anderen tun, sich also nicht zu viel auf sich selbst zu konzentrieren. Höre ich auf das, was die drei anderen machen, spiele ich automatisch richtig und wir musizieren zusammen. Den Mut zum Risiko muss man dabei immer haben, es darf auch mal schiefgehen. Der Witz des Lebens ist, sich nicht gegen alles abzusichern und sich auch mal einer unwägbaren Situation auszusetzen, in der man gewinnen aber auch verlieren kann. Das nervt mich so an dieser Zeit, dass man glaubt, alles regulieren zu müssen.

Die heutige Zeit ist durchzogen von zeitgemäßen Begriffen wie Political Correctnes, der Woke-Generation oder der Cancel Culture. Ob richtig oder falsch, beschneiden sie nicht die Freiheit der Kultur?
Natürlich tun sie das. Was gibt es Dümmeres, als Quoten über Qualität zu stellen, und wie anmaßend sind Leute, die selbst wenig oder nichts geleistet haben, Menschen vergangener Zeiten abzuurteilen, nur weil sie nicht ihren heutigen Moralvorstellungen entsprechen! So wird Martin Luther zum Antisemiten und Kant zum Rassisten. Völlig wurscht, was sie für die deutsche Sprache, die Reformation oder die moderne Philosophie bedeutet haben. Muss ich selbst schwul sein, um einen Schwulen spielen zu dürfen? Mitglied der NPD sein, um einen Nazi im Film zu verkörpern, oder mich an kleinen Jungs vergriffen haben, um einen pädophilen Schulleiter zu spielen? Wenn man das alles durchdekliniert, geht am Ende überhaupt nichts mehr. Aber ich bin zuversichtlich, dass diese Bewegung selbstgerechter Wichtigtuer früher oder später unter dem Gewicht ihrer eigenen Absurdität zusammenbricht.

Und dann gibt es noch die sozialen Netzwerke, die sofort für Entrüstungen und Shitstorms sorgen. Sie sind als Teilnehmer der #allesdichtmachen-Aktion letzten Frühling ein gebranntes Kind. Würden Sie das heute anders lösen?
Es war vielleicht nicht besonders gut umgesetzt, aber ich fand die Aktion an sich vollkommen in Ordnung. Keiner von uns hat die Pandemie verleugnet oder sich über Menschen lustig machen wollen, die in den Krankenhäusern ihr Letztes gaben. Es ging darum, eine Politik satirisch aufs Korn zu nehmen, die sich als alternativlos hinstellte, und zur Rettung von Kultur und Lebensqualität aufzurufen. Bei Tucholsky durfte die Satire noch alles. Die Reaktion auf diese mehr oder weniger harmlosen Filmchen war extrem überzogen. Man merkte deutlich, in welch seelischer Schieflage sich unsere Gesellschaft befindet. Das einzige, was ich wirklich bedauere, ist, dass so viele Kollegen umgefallen sind.

Hat sich dann bei Ihnen in den Künstlerkreisen auch eine Spaltung ergeben?
Es wurde viel diskutiert, man wurde beschimpft, und in einem Fall kam es tatsächlich zum Freundschaftsbruch. Ich war fassungslos. Es war sehr erhellend zu erfahren, was heute passiert, wenn man von einer vorgegebenen Generallinie abweicht. Dass dieser Untertanengeist inzwischen von der politischen Linken eingefordert wird, die ja früher gegen jegliche Form staatlicher Bevormundung anrannte, ist der Witz der Stunde.

Schauspieler Richy Müller hat bei der #allesdichtmachen- Aktion theatralisch in zwei Säckchen geatmet. Ist das Ihrer Meinung nach denn nicht zu viel des Guten, wenn man als Rezipient direkt oder indirekt von Covid betroffen ist?
Ja okay, nicht alles war hundertprozentig geschmackssicher, aber die Aktion an sich sollte in ironisch überspitzter Form den Irr-sinn einer falschen Politik aufzeigen. Wenn man Kino-, Konzert-, Theatersäle und Gasthäuser schließt, bleibt nichts mehr, was lebenswert ist. Dabei hatten die sich mit Sicherheitskonzepten gut aufgestellt und viel Geld investiert, das wurde alles einkassiert, und so vermasselte man den Lebensstart junger Menschen und trieb viele auch außerhalb der Krankenhäuser in die Verzweiflung

Heute muss wohl jede Person des öffentlichen Lebens zumindest einmal durch ein Social-Media-Stahlbad.
Ich bin in den sozialen Hetzwerken nicht zu finden. Amerikanische Technologiekonzerne bestimmen jetzt das Leben meiner Zeitgenossen, und sie sprechen ja auch schon ihre Sprache. Ich finde diese Totalentäußerung der Menschen und ihren freiwilligen seelischen Ausverkauf würdelos. Den nach unserer Aktion einsetzenden Jauchesturm haben die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen voll abgekriegt. Viele sind daraufhin umgefallen. Selbst schuld, wer in dieser Giftwolke hängt. Das ist die Entfesselung menschlicher Gemeinheit und die Ermordung jeglichen Anstands. Wir gehören ohnehin schon einer sehr merkwürdigen Spezies an, die man besser auf Distanz hält. Ich habe 20 Jahre in Venedig gelebt. Ich habe nicht immer alles verstanden, was die Menschen dort sprachen, und die 20 Prozent, die ich nicht verstand, waren ein Spiel meiner Phantasie. Sie behielten immer etwas für sich, dessen Bedeutung ich mir ausmalen musste. So wie es bei alten Stummfilmen keine Farbe und keinen Ton gibt, nur schwarz-weiße Bilder, die über die Leinwand flackern. Sie bewahren ihr Geheimnis. Ich will in diesem Leben nicht alles wissen.

Ihr musikalisches Projekt ist angekündigt als „Rhythmus in Dosen“. Muss man den Menschen aufgrund der immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspanne heute alles in Dosen servieren?
Der Titel ist der Tatsache geschuldet, dass wir unsere Konzerte während der Pandemie ohne Pause spielen mussten und die 70 Minuten nicht überspringen durften. Da kam mir der Instrumentaltitel von Lutz Templin aus dem Jahre 1942 gerade recht. Das, was wir sonst üppig und in voller Länge dargeboten hätten, wurde nun in kleineren, aber geschmacklich konzentrierten Dosen verabreicht.

Zudem wird der Abend als virologisches Spezialprogramm vorgestellt. Von Viren haben die Menschen aber wohl langsam endgültig genug.
Die Pandemie spielt nur im Eingangslied eine Rolle: Wir sind alle in der Falle auf dem großen Maskenballe, ohne Frack und ohne Hosen: Rhythmus in Dosen!

20 Jahre in Venedig, dazu haben Sie auch ein Domizil in der Toskana. Wieso sind Sie nach so langer Zeit im Süden nach Berlin-Schöneberg übersiedelt?
Warum habe ich das getan? Vielleicht waren die zwanzig Jahre in Italien genug. Alles hat seine Zeit. Das Leben dort war herrlich, aber im ersten Wohnsitz immer auch sehr anstrengend. Ich wäre gerne im Süden geblieben, meine Frau zog es nach Norden. Selbst Wien hat sie sich verweigert, was ich nicht verstehen kann. Irgendwie wurde es dann Berlin. Wir zogen ins sympathische Schöneberg, und kaum waren wir angekommen, kam der große Lockdown. Es gibt nichts Deprimierendes als eine Großstadt in Lethargie. Da ist jedes Dorf aufregender, in dem man sowieso nichts verpasst.

Wie entkommt man in Venedig 20 Jahre lang den Touristenströmen?
Wir lebten auf der Giudecca, einer langgestreckten Insel am südlichen Rand der Stadt. Sehr schön, eine weitgehend intakte Infrastruktur und bis auf die Redentore Kirche keine bedeutenden Touristenattraktionen. Dort kriegte man diesen schrecklichen Massentourismus gar nicht so richtig mit. Man muss ja auch nicht auf den Markusplatz gehen, jedenfalls nicht vor Mitternacht. Und jetzt also die nicht zu fassende deutsche Hauptstadt! Aber das ist nicht die Endstation.

Bleibt aber immer noch der Landsitz in der Toskana als schöne Fluchtmöglichkeit.
Das ist leider kein Landsitz. (lacht) In Venedig herrschen sehr schwüle, heiße Sommer, die kaum auszuhalten sind. Jeder Venezianer flüchtet im Hochsommer in die Berge. Mein Nachbar, ein englischer Maler, hatte sich in den nördlichen Apenninen schon in den 70er-Jahren ein altes Haus gekauft. Dort fanden auch wir einen Haufen Steine, die mal ein Bauernhof waren und bauten ihn über Jahre wieder auf. In totaler Natureinsamkeit auf 1000 Meter Höhe, mit einem fantastischen Blick, der sich seit etruskischer Zeit nicht verändert hat. Drumherum 40 Hektar Wald. Das hört sich alles toll an, aber es ist einfach zu groß und zu wild. Wir wollen es verkaufen, aber da müssen Sie jemanden finden, der einen Pferdehof, einen Agriturismo oder ein Meditationszentrum betreiben will. Und das ist nicht so leicht.

Woher kommt denn Ihre Liebe zum Jazz der alten Tage mit Fokus auf die 20er-Jahre? Ist es die Musik? Der Stil? Die Umsetzung? Das Gesamtpaket?
Als ich den klassischen Jazz das erste Mal als ganz junger hörte, war diese Liebe da. Ad hoc. Heute verbinde ich ein bestimmtes Lebensgefühl damit. Man hat sich elegant gekleidet, es gab mondäne Tanzpaläste, fantastische Spelunken, man hat das Leben gefeiert und sich stilisiert. Man war sich selbst etwas wert und musste die Dinge in die eigene Hand nehmen. Es gab Grammophone, kaum Radio. Wenn junge Leute feiern wollten, mussten sie die Musik selbst machen. Die primitiven Aufnahmetechniken der Schallplattenstudios haben die vielen Jazz- und Tanzmusiker zur Meisterschaft getrieben. Eine Big-Band wie die von Duke Ellington aus der Zeit des Junglejazz wird’s nie wieder geben. Die alten Aufnahmen sind heute noch so frisch, druckvoll und lebendig wie am ersten Tag. Es gibt eben Zeiten, in denen die populäre Musik in den Himmel fliegt und solche, wo sie am Boden klebt.

Ist diese Musik ein Ort der Nostalgie für Sie? Ein Ausbruch aus dem unvermeidlichen Alltag?
Zuallererst ist sie mein Lebenselixir. Ich habe mir in unserer Berliner Wohnung ein Zimmer eingerichtet, eine Art Opiumhöhle, wie es dem Geschmack junger Leute vor hundert Jahren entspricht. Dunkel, orientalisch, ein bisschen asiatisch, da stehen ein altes Grammophon, ein Klavier und ein Harmonium. Nichts erinnert an heute, höchstens ein elektrischer Plattenspieler aus den frühen 50er-Jahren. Das ist mein Refugium, mein kleines Paradies.

Warum stehen junge Leute wieder auf die Stones, die Beatles oder Led Zeppelin? Weil sie etwas in der Musik, in der Kunst suchen, das man heute nicht mehr findet. Etwas, das einen zum Träumen bringt?
Musik hat auch viel mit der Mode gemein. Beides funktioniert in Wellenbewegungen und taucht in unterschiedlichen Facetten immer wieder mal auf. Damals hatten Moden eine längere Haltbarkeit und sie haben ganze Gesellschaftsschichten erfasst. Heute ist alles sehr segmentiert und schnelllebig und von einer Industrie angetrieben, die ständig neuen Umsatz generieren will. Natürlich ging es auch damals um Geld, keine Frage, aber nicht in diesem Ausmaß. Die Bands haben sich länger gehalten.

Es gibt rundum, etwa in London, sehr gute junge Jazzszenen, aber die spielen sich in Nischen ab. Sie erreichen niemals mehr die breite Masse.
Das scheint vorbei. Aber es findet viel Interessantes in den Nischen statt, da haben Sie recht. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass das Vinyl zurückkehrt? Viele junge Menschen wollen wieder etwas in der Hand haben und nicht nur im Ungefähren und Wesenlosen herumtreiben. Wir sind haptische Wesen, unsere Seelen sind alt. Sich exponentiell entwickelnde Technologien sind dabei uns eine kalte Welt zu bescheren, in der vielleicht nicht mehr jeder leben will.

Ist der Mensch Ihrer Meinung nach so konzipiert, dass er wieder aus dem ausufernden digitalen und virtuellen Rad rausfindet? Dass echte Begegnungen und Beziehungen wieder mehr an Wert gewinnen?
Diese Sehnsucht ist natürlich da, denn wir leben ja erst seit 150 Jahren in einer industriellen Massengesellschaft. Wenn das eigene Leben Tag und Nacht von Bilderfluten und vorgefertigten Parametern definiert und manipuliert wird und man seine eigene Fantasie nicht mehr benutzt, dann stürzen wir als Menschen ab. Wenn ich ins Theater gehe, reichen mir zwei gute Schauspieler und ein toller Text - den Rest male ich mir selbst aus. Beim Lesen eines Buchs bist Du der Regisseur und der Kameramann in einem, du baust dir dein privates Kino und tauchst ein in deine ganz eigene, geheimnisvolle Welt. Das ist authentisch und würdevoll. Ich habe mal versucht, mich auf einem Flughafen nur auf mich selbst und meine Umgebung zu konzentrieren und diesen ständigen Bilderangriffen zu entkommen, aber das ging gar nicht. Da muss man schon auf den Fußboden starren und sich die Augen rechts und links zuhalten.

Sie besitzen aber zumindest kein Smartphone.
Ich habe eine Frau, die eins besitzt und bin irritiert, wie sehr das Zeug süchtig macht. Ich versuche mich dem so weit wie möglich zu entziehen. Ich trage auch die Impfpässe analog bei mir und bezahle grundsätzlich mit Bargeld. Das ist jetzt vielleicht etwas viel Technologie- und Zivilisationskritik, aber wir stehen ja erst am Anfang einer Entwicklung, die uns vermutlich keine schöne, neue Welt, sondern eher einen Albtraum beschert.

Dafür haben wir Ulrich Tukur und die Rhythmus Boys als analoges Konzerterlebnis - wo aus dem Publikum heraus sicher auch gefilmt wird.
Manche Menschen filmen das Konzert ab und man kann wenig dagegen tun; sie sehen dich leider nicht an, sondern archivieren nur etwas, das dann später auf YouTube oder sonstwo landet. Diese Menschen sind nicht mehr da, wo man sie sieht. Das sind Larven und Avatare, die sich überall vermehren.

Vielleicht sehnt sich ja die nächste Generation nach etwas weniger Sichtbarkeit und mehr Privatsphäre zurück.
Das hoffe ich. Ich hoffe, dass bald eine wahrhaft revolutionäre Jugend daherkommt, die es nicht mehr akzeptiert, von Technologiekonzernen und algorithmischen Systemen ausgenommen und manipuliert zu werden und endlich das angreift, was uns die Menschenwürde raubt: die totale Kontrolle und Vernichtung unserer Seelen.

Live-Termine in Österreich
Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys treten mit dem Programm “ Rhythmus in Dosen“ am 26. und 27. März im Wiener Theater Akzent auf. Alle weiteren Infos, die genauen Beginnzeiten und Karten finden Sie unter www.akzent.at. Am 28. und 29. März spielt er in der Grazer Komödie und am 30. März in der Congresshalle in Leoben.

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