Neues Album „Wonder“

Shawn Mendes: Zeit für die Quarterlife-Bilanz

Musik
07.12.2020 06:00

Auf seinem vierten Album „Wonder“ möchte sich der kanadische Teenie-Star Shawn Mendes so offen und ehrlich wie nie zuvor zeigen, doch für ungeschminkte Ehrlichkeit ist im Pop-Business kein Plan. Zumindest nicht nach erst 22 Lebensjahren. Ein Einblick ins Seelenfenster wird dem Fan dennoch gewährt.

(Bild: kmm)

Wer sich eine bestimmte Tiefe oder überraschende Erkenntnisse erwartet hat, wird von „In Wonder“ enttäuscht sein. Die Netflix-Dokumentation, abrufbar seit 23. November, befasst sich mit dem musikalischen Phänomen Shawn Mendes, dem größten Popwunder Kanadas seit Justin Bieber. Freilich kann man ihm über die Schulter blicken, wie er an seinem neuen Album arbeitet. Natürlich bekommt man ein bisschen von der Klatschspalten-Liebe zur Hitparadenstürmerin Camila Cabello mit, aber die große Chance, den 22-Jährigen offen in seinem Wirken und Sein ablichten zu können, lässt man bewusst verstreichen. Es ist die alte Grundregel im Pop-Game: den Zuseher und Fan möglichst nahe an sein Idol heranführen, ihn aber niemals hinter die Kulissen blicken lassen, denn sonst verpufft der Effekt des über allen Stehenden zu rasant. Auch wenn diese Zurückhaltung im Internetzeitalter schwieriger wird, wissen die Profis immer noch, wann es mit dem Ausleuchten der Persönlichkeit reicht.

Richtige Mischung
Mendes gelang das seltene Kunststück in den so wichtigen Märkten USA und Kanada mit all seinen bisherigen drei Studioalben auf Platz eins der Charts zu gelangen. Mit den beiden letzten, „Illuminate“ (2016) und „Shawn Mendes“ (2018) hat das auch hierzulande funktioniert. Seine Popularität in Europa verdankt er einem ausgeklügelten Tourplan, der ihn zweimal in die Wiener Stadthalle führte. Shawn Mendes ist der Glattpolierte unter den jungen Pop-Superstars. Justin Bieber hat den Sprung vom unschuldigen Kinderstar zum Liebling aller Schwiegermütter bekanntlich nicht hinbekommen, Ed Sheeran haftet immer noch der gemeine Nimbus des hässlichen Entleins an und Harry Styles ist zwar musikalisch der interessanteste der Post-Teenage-Stars, aber noch immer zu stark mit seiner global erfolgreichen Boyband One Direction verbunden. Mendes ist selbstsicher, talentiert, sexy, bescheiden, skandalfrei und trotzdem nicht langweilig. Die perfekte Mischung für alle Generationen, die mit einer fast schon roboterhaften Akkuratesse alles versucht, um an all den vorher genannten Eigenschaften zu streifen, sie aber nicht offensiv zu personifizieren.

Wenn so jemand mit einem neuen Studioalbum aufkreuzt und von Ehrlichkeit und Offenheit spricht, ist Vorsicht geboten. Tatsächlich gelingt es dem Album „Wonder“ im Gegensatz zur Streaming-Dokumentation „In Wonder“ auf wundersame Weise, einen semiprivaten Zugang zum Künstler zu vermitteln. Wie schafft der junge Man mit gut 20 Millionen verkauften Alben und etwa 50 Milliarden gestreamten Songs es, gleichermaßen nahbar wie Ed Sheeran zu sein und doch eine gewisse Grenze erkennen zu lassen, die man auch mit viel Bemühen nicht überwinden kann? „Wonder“ ist eine vertonte Biografie des ersten Lebensviertels eines jungen Mannes, der offensichtlich überall außerhalb der Musik genau weiß, was er will. Eine kongruente klangliche Linie, die man trotz des großen Pop-Gestus der letzten Alben leicht fühlen konnte, findet man noch immer nicht, dafür mäandern die 14 Songs auf „Wonder“ in viel zu unterschiedlichen Gefilden und versuchen sich bewusst einer klassischen Kategorisierung zu entziehen.

Der Falle entzogen
Wer noch immer die großen Hits „Treat Me Better“ oder „There’s Nothing Hold Me Back Down“ klingeln hört, wird sich auf dem neuen Werk etwas umorientieren müssen. Mendes wagt sich im Titelsong gar in psychedelische Gefilde und versucht damit, eine breitere Zeitlosigkeit in seine Kompositionen zu kriegen. „Teach Me How To Love“ hingegen ist ein simpler Disco-Track ohne Ecken und Kanten, während „Dream“ als sanft akzentuierte Piano-Ballade beginnt und mit Fortdauer eine cinematische Breite erreicht. „Piece Of You“ kokettiert in seiner R&B-Lastigkeit vor allem mit dem amerikanischen Markt und „Call My Friends“ versprüht ein sanftes 70er-Glam-Rock-Feeling. Nicht unwichtig ist aber auch das Wissen Mendes‘, was er nicht kann. Wer sich vor Trendreitereien wie zwanghafte eingebaute Rap-Parts oder einen polternden EDM-Sound fürchtet, kann erleichtert aufatmen. Mendes tappt nicht in die ach so populäre Falle, sich zu sehr von Dritten in die kreative Suppe spucken zu lassen und umschifft Genres, die ihm nicht gut zu Gesicht stehen.

Den Albumtitel hat sich Mendes im Sommer auf seinen rechten Arm tätowieren lassen - ein untrügliches Zeichen für eine intensive Auseinandersetzung mit der dahinterliegenden Thematik. Die private Liaison mit Cabello, die 2019 mit dem weltweiten Hit „Senorita“ begann, setzt sich analytisch nahtlos auf „Wonder“ fort. So klingt „Higher“ wie die klangliche und inhaltliche Fortsetzung des Zusammenfindens, dreht sich „24 Hours“ um die in der Dokumentation aufgegriffene Frage, ob die beiden jetzt ein Paar wären, während sie gemeinsam in New York wohnten und zeigt sich das mit 60s-Pop-Referenzen durchzogene „305“ als Hommage an Cabellos Heimatstadt Miami, die Mendes mittlerweile nicht nur gut kennt, sondern auch liebgewonnen zu haben scheint. Auch „Piece Of You“ und „Song For No One“ lassen vermuten, dass „Wonder“ in seiner Gesamtheit weniger eine Lebensrückschau ist, sondern sich vielmehr um das glückselige Liebesleben des Hauptprotagonisten dreht. Und wer die große Star-Geste braucht, der ist bei der vorab ausgekoppelten Justin-Bieber-Kollaboration „Monster“ richtig, wo sich die beiden über das Podest beschweren, auf das sie von der Öffentlichkeit befördert werden.

Was kommt?
Über sein Leben reflektiert Mendes meist zwischen den Zeilen. Etwa im Titeltrack darüber, dass er stets mit einem großen Ego ausgestattet gewesen sei, mittlerweile aber gemerkt habe, dass Selbstreflexion nicht nur für eine glückliche Beziehung dienlich ist, sondern auch den eigenen Geist reinigt und die Dinge richtig zu sortieren vermag. Mendes geht auf „Wonder“ nicht den ehrlichen und offenherzigen Weg, der wirklich wehtut und bislang Unbekanntes offenbart, lässt aber seltene Blicke in sein Seelenfenster zu. Nicht zuletzt im Song mit Bieber schwingen Ängste vor dem Versagen oder der Bedeutungslosigkeit mit. Was kommt, wenn das Rampenlicht erlischt? Wenn man den musikalischen und auch menschlichen Sprung in die nächste Lebensphase nicht so würdig und souverän schafft, wie es alle von einem erwarten? Zur echten Heldengeschichte gehören auch negative Erfahrungen, doch davon ist Mendes noch weit entfernt. Und „Wonder“ wird nichts daran ändern.

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