Vor drei Jahren wurden die zwei Britinnen Rhian Teasdale und Hester Chambers mit ihrem Freundinnen-Projekt Wet Leg über Nacht zu internationalen Superstars. Der Hype ist etwas zurückgegangen, aber noch nicht abgeflacht. Mit „Moisturizer“ folgt das lang erwartete zweite Album, auf dem man dem Pop-Mainstream wieder den Mittelfinger entgegenstreckt.
Kurz bevor der allseits beliebte Pop-Schnuckel Harry Styles im Sommer 2023 die Bühne des Wiener Ernst-Happel-Stadions betrat, rauschten zwei Damen mit Band-Unterstützung im Vorprogramm wie ein ICE-Zug durch das Oval. Die wenig jugendfrei getauften Wet Leg begeisterten mit einer Mischung aus klar herausgestelltem Angriffsfeminismus, Punk-Attitüde und dem untrüglichen Händchen für einen markanten Indiepop-Touch, wie man ihn in den 2000er- und 2010er-Jahren schätzen und lieben gelernt hat. Der Hype war schon damals real und hat sich auch nach einem etwas ruhigeren Jahr 2024 nicht gelegt. Ihr schlicht „Wet Leg“ getauftes Debütalbum sorgte nicht nur dafür, dass das Freundinnen-Duo Rhian Teasdale und Hester Chambers über Nacht zur heißesten Indie-Ware von der an Hypes ohnehin nicht armen britischen Insel wurde, sondern machte die beschauliche und eher schnarchige Isle Of Wight im südlichsten Zipfel Englands zur Metropole kokett hervorgekehrter Coolness.
Den Nerv getroffen
Was folgte, liest sich rückblickend wie die leidlich auserzählte Sage des amerikanischen Tellerwäschers, der zum Millionär wurde: drei Grammys, zwei BRIT-Awards, eine Nummer-eins-Position in den englischen Charts, eine europaweit ausverkaufte Club-Tour, die fulminanten Sommer-Stadionshows im Vorprogramm von Harry Styles und treu ergebene Fans mit Namen wie Iggy Pop und Dave Grohl, die – gefragt oder ungefragt – nicht müde wurden, ihre neuen Favoritinnen in der Öffentlichkeit so oft und prominent wie möglich anzupreisen. Die frech-frivolen Texte und die deutlich nach außen gekehrte Fuck-Off-Mentalität gegenüber angriffigen Männern und toxisch-maskulinen Verhaltensmustern traf den Nerv einer ganzen Generation - die Single „Chaise Longue“ wurde gleichermaßen zu Sprachrohr und Hymne ebenjener.
Nach der großen Party folgte im beschaulichen Bandcamp der beiden hochkreativen Künstlerinnen aber nicht der Kater samt Biber im Gaumen, sondern die Motivation, sich mit dem Rückenwind der europaweiten Popularität so schnell wie möglich wieder ans Werk zu machen. „Am härtesten war der Start“, erinnert sich Frontfrau Teasdale in einem Interview an die ersten Schritte zum brandneuen Nachfolger „Moisturizer“ zurück, „in unserem Umkreis und auch drumherum haben alle nur vom schwierigen zweiten Album‘ gesprochen und das hat mich irgendwann richtig verunsichert. Wir haben uns dann aber zusammengesetzt, zu schreiben begonnen und es griff ein Zahnrad ins andere. Die Sache kam ins Rollen.“ Im März 2024 zog man sich samt Band in ein Haus ins britische Küstenstädtchen Southwold zurück und kasernierte sich so lange, bis die Kreativität überhandnahm.
Die Krallen ausfahren
Am Produktionsregler saß einmal mehr Mastermind Dan Carey, der die britische Indie-Szene der letzten zehn Jahre wie kein Zweiter prägte. So wie er es am Debüt geschafft hat, die den beiden Damen anheim liegende Schrägheit ihrer Persönlichkeiten mit einer gewissen Zugänglichkeit für die Allgemeinheit zu koppeln, sorgt er auch auf dem neuen Werk, dass alte Fans nicht vom „Ausverkauf“ sprechen müssen. Mit Auszeichnungen und üppigen Streamingzahlen im Rücken hätten Chambers und Teasdale locker voll in die Pop-Box springen und sich zu internationalen Mainstream-Stars verwandeln können – doch man wählt auf „Moisturizer“ lieber den schwierigen Weg und bleibt der zuweilen sperrigen Linie treu. Die erste Single „Catch These Fists“, ein Dance-Punk-Banger der allerersten Güte, deutete schon vor einigen Wochen darauf hin, dass man bei Wet Leg (nicht nur am Albumcover) noch immer gerne die Krallen ausfährt und sich nicht von der leichten Muse vereinnahmen lässt.
Diese Mischung aus kühler Post-Punk-Coolness, tiefgehend-offensiven Texten und einer humoristisch-ironischen Leichtigkeit lässt sich auf dem Zweitwerk durchaus fortführen. Dass die drei männlichen Bandmitglieder aufgrund der nicht enden wollenden Tourerfahrungen der letzten Jahre auch aktiv in den Songwritingprozess eingegliedert wurden, steht dem Album gut zu Gesicht. War das Debüt noch von Teasdales Beziehungsende und ungefilterten Rachefantasien an die Männerwelt geprägt, hat sich die Frontfrau über die letzten drei Jahre auf ihre erste queere Beziehung eingelassen und dabei neue Facetten an sich und ihren inhaltlichen Zugängen entdeckt. Songs wie der Disco-Opener „CPR“, das gemütliche „Davina McCall“ oder das mit Synthie-Klängen vorangetriebene „Mangetout“ zeigen die Combo mal entspannter, mal angriffiger, aber immer versucht, der eigenen Linie treu zu bleiben und sich dabei in einem gewissen Rahmen weiterzuentwickeln.
Intimität und Schmäh
Für unzweideutige Schweinereien ohne Jugendfreigabe bleibt bei Wet Leg – Nomen est Omen - natürlich ausreichend Raum. In „Pillow Talk“ besingt Teasdale die Freuden der bevorstehenden Kopulation folgendermaßen: „I can make you wet like an aquarium“. Freilich steckt auch hier wieder eine große Wagenladung Schmäh im Wunsch der intimen Zweisamkeit. „Moisturizer“ ist durchzogen von Wortspielen, Andeutungen, Doppelbödigkeiten und Intimitäten, deren Offenheit keine Rückfragen offenlassen. Zwischen den wenigen Ausruh-Songs und den zumeist flott nach vorne treibenden Nummern mit Punk-Appeal bleibt wenig Raum, um sich nach dem ersten Welterfolg eine neue Identität zuzuweisen. Womöglich war das im Wet-Leg-Camp aber auch gar nicht gewünscht, denn durch ihre öffentliche Herangehensweise, die exaltierten Bühnenshows und die knackigen Indie-Hymnen haben sich die zwei Mädels samt Band ohnehin ein Alleinstellungsmerkmal erarbeitet. „Moisturizer“ eignet sich jedenfalls perfekt als fetziger Grillparty-Sommer-Soundtrack.
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