Lordes viertes Album „Virgin“ ist eine musikalische Rückkehr zum artifiziellen Pop, der sie vor zwölf Jahren über Nacht zum etwas anderen Weltstar gemacht hat. Inhaltlich kämpft sie gegen innere Dämonen, Unzulänglichkeiten und die Schwierigkeit, man selbst zu sein, an. Ein Album, das den Mainstream-Pop mit einer neuen Ehrlichkeit durchzieht.
Lorde mag den großen Auftritt. Als sie die erste Single ihres neuen Albums „Virgin“, „What Was That“, im New Yorker Washington Square Park spielte, musste die örtliche Polizei die Veranstaltung abbrechen, weil schlichtweg zu viele Fans und Interessierte ihrem Instagram-Aufruf zum Erscheinen gefolgt waren. Bei einer „Listening Session“ des Albums für Fans in London tauchte sie plötzlich persönlich auf und tanzte eine Runde zu ihren eigenen Songs. Nach dem „Brat-Summer“ 2024 mit Charli XCX, der die Popwelt in grelles Grün tauchte und Perfektion zugunsten einer bewussten Schrägheit opferte, wird von Medien nun schon der „Lorde Summer“ ausgerufen. Ob es einen ähnlichen Hype wie um ihre britische Freundin geben wird, bleibt zu bezweifeln, aber das in diesem Jahr spannendste, vielseitigste, intimste und sicher auch beste Album unter den vielen weiblichen Super-Popstars kann die Neuseeländerin bis jetzt auf jeden Fall für sich verbuchen.
Bruch mit dem Gestern
„Virgin“ ist einerseits eine überraschend deutliche Öffnung ins Seelen- und Gedankenleben der heute 28-Jährigen, andererseits eine bewusste Abkehr vom bislang letzten, 2021 veröffentlichten Werk „Solar Power“, auf dem sie fröhlich mit folkloristischen und psychedelischen Sounds experimentierte und damit die Fans in zwei Lager spaltete. Die einen feierten sie für ihren Mut und dem bewussten Bruch bisheriger Erfolgsformeln, die zahlenmäßig wesentlich größere zweite Hälfte vermisste aber den artifiziellen Pop-Sound, der ihr Debüt „Pure Heroine“ (2013) und auch das filigrane „Melodrama“ (2017) zu Werken machte, die eine ganz neue Farbe in die Popwelt brachten. Lorde ist so etwas wie der dunkle Schatten fröhlicher Shorts- und Top-Trägerinnen wie Miley Cyrus, Olivia Rodrigo und Sabrina Carpenter. Sie rückte schon vor Charli XCX und der altersbedingt noch jüngeren Billie Eilish Themen wie Selbstzweifel ins rechte Licht und öffnete damit bis dorthin verschlossene Türen der ungefilterten Emotionsausschüttung.
Eben so ungefiltert wie nie zuvor zeigt sie sich auf „Virgin“. Das beginnt schon beim Cover-Artwork, das ein Röntgenbild mit Reißverschluss, Jeansgürtel und – ja - einer Spirale zeigt. Ob Lorde damit unterbewusste Verhütungstipps gibt und der konservativen Anti-Abtreibungslobby einen visuellen Mittelfinger entgegenstreckt, oder sie doch nur ein weiteres, noch zu lösendes Geheimnis ihres eigenen Lebens verbildlicht, bleibt im Auge des Betrachters. So stark und robust Lorde mit ihren schrägen Bühnentänzen und der selbstbewussten Musik auch wirken mag, die teils vernichtenden Kritiken von „Solar Power“ haben die Künstlerin stark getroffen. Dazu kamen weltliche Probleme wie zerrüttete Beziehungen, eine frisch aufgeflammte Essstörung und psychische Unsicherheiten, die es ihr eine Zeit lang unmöglich machten, sich aktiv mit Musik auseinanderzusetzen und der Kreativität freien Lauf zu lassen. Man merkt: Das Leben eines millionenschweren Superstars ist gewiss nicht immer mit freimütigem Lebensglück beschwert.
Konzentration und Partizipation
Wie auch auf ihren ersten Alben wählt Lorde auf „Virgin“ niemals den leichten Weg, sondern versucht ihren Sound flächig zu gestalten. Mehr Elektronik zu den Gitarren, mehr Dissonanz, die sich aber nie bleiern anfühlt und mehr Intensität im Gesang, der bei Songs wie „What Was That“, „David“ (wo sie auch ihr eigenes Album „Pure Heroine“ besingt) oder dem brückenschlagenden „Clearblue“ deutlich heraussticht. Mental Breakdowns und Gender-Fluidität sind unter den Themen, die mit sich selbst oder den Hörern diskutiert werden. Ähnlich wie Eilish lässt die Neuseeländerin keinen Raum für ausstaffierten Glamour oder biedere Oberflächlichkeiten. Dafür sind ihr ihre Lieder, ihre Themenbereiche und die durchaus intensive Umsetzung im gesanglichen Kontext zu wichtig. Die einzelnen Lieder atmen und japsen – sie erfordern Konzentration und Partizipation, weil sie nicht einfach leichtfüßig durch die Gehörgänge rutschen.
„Virgin“ ist eine besonders feministische Ode einer ohnehin dezidiert-feministischen Künstlerin. Lorde emanzipiert sich darauf nicht von den fremdartigen Klängen ihres letzten Albums und taucht wieder tiefer ein in die artifizielle Pop-Welt, die ihr das Alleinstellungsmerkmal in der Pop-Industrie bescherte, sie lässt sich auch längst nicht mehr von Unsicherheiten einbremsen und geht in jeder Hinsicht „all in“. Das macht sie zwar verletzlich und angreifbar, evoziert aber auch jene Form von purer und unmaskierter Kunst, die man gerade im Mainstreampop-Segment für gewöhnlich mit der Lupe suchen muss. Nach „Solar Power“ trat sie nur selten öffentlich in Erscheinung. Etwa mit einem Talking-Heads-Cover für eine Compilation, mit einer EP, wo sie „Solar Power“-Songs auf Maui einsang oder durch das Cover von Rosaliás Song „Hentai“ – ansonsten überwog der Kampf gegen die eigenen Dämonen.
Intensiv, schmerzhaft, ehrlich
Auf „Virgin“ folgt man der Künstlerin auf ihrer Reise durch mentale und körperliche Veränderungen. Sie gewährt uns in Songs wie „Shapeshifter“, „Favourite Daughter“ oder „Broken Glass“ einen intimen Blick in das Innere einer Persönlichkeit, deren einzige Sicherheit im Leben die stete Unsicherheit zu sein scheint. Eine Selbstfindung im musikalischen Sinne, auf der in meist sanften, zwischen den Zeilen auch fordernden Momenten auf die nicht immer glanzvollen und schönen Seiten des Lebens eingegangen wird. „Virgin“ ist nicht nur ein Freistrampeln aus der eigenen Vergangenheit und das Ausbrechen aus dem Käfig des von außen Gesehenwerdens, sondern auch ein vertontes Mahnmal der intensiven, zuweilen auch schmerzhaften Ehrlichkeit. Ihre Europa-Tour fährt Ende des Jahres leider zielgerichtet an Österreich vorbei, auf ihr Live-Debüt müssen wir hierzulande weiter warten. Ob „Virgin“ zum „Lorde-Sommer“ taugt, darf angesichts der partiellen Schwere des Albums angezweifelt werden. Mehr Ernsthaftigkeit und das offene Auseinandersetzen mit sich selbst hat aber noch nie geschadet.
Kommentare
Willkommen in unserer Community! Eingehende Beiträge werden geprüft und anschließend veröffentlicht. Bitte achten Sie auf Einhaltung unserer Netiquette und AGB. Für ausführliche Diskussionen steht Ihnen ebenso das krone.at-Forum zur Verfügung. Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.
User-Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Betreibers/der Redaktion bzw. von Krone Multimedia (KMM) wieder. In diesem Sinne distanziert sich die Redaktion/der Betreiber von den Inhalten in diesem Diskussionsforum. KMM behält sich insbesondere vor, gegen geltendes Recht verstoßende, den guten Sitten oder der Netiquette widersprechende bzw. dem Ansehen von KMM zuwiderlaufende Beiträge zu löschen, diesbezüglichen Schadenersatz gegenüber dem betreffenden User geltend zu machen, die Nutzer-Daten zu Zwecken der Rechtsverfolgung zu verwenden und strafrechtlich relevante Beiträge zur Anzeige zu bringen (siehe auch AGB). Hier können Sie das Community-Team via unserer Melde- und Abhilfestelle kontaktieren.