„Krone“-Interview

EsRAP: Ein Tschuschistan für alle Menschen

Wien
29.09.2023 09:00

Mit ihrem dritten Album „...weil sie Wien nicht kennen“ beweisen EsRAP mithilfe der Band Gasmac Gilmore eindrucksvoll, dass sie die derzeit spannendste gesellschaftspolitische Band Österreichs sind. Die beiden Geschwister Esra und Enes Özmen unterhielten sich mit uns über Musik, Gastarbeiter, Identität und den größten Vorteil der Bäckereien in Ottakring.

Um den Hype um das Geschwisterduo Esra und Enes Özmen zu verstehen, muss man nur kurz mit dabei sein. Als wir uns zum vereinbarten Interview treffen, steht am Schwarzenbergplatz noch eine Fotosession an. Die beiden Musiker posieren keine zwei Minuten, da schreit ein Fan vorbeifahrend „Hoch lebe EsRAP“ aus seinem Auto und fährt weiter den Ring entlang. Auf der Straße angesprochen zu werden, ist vor allem für Esra längst keine Seltenheit mehr. Seit die beiden vor ungefähr fünf Jahren ins Rampenlicht gerückt sind, haben sie die Kulturwelt der Bundeshauptstadt entscheidend verändert. Musikalisch pflegen sie eine Mischung aus Rap (den Teil übernimmt meist Esra) und Arabeske, eine türkisch-orientalische, melodisch-melancholische Musikrichtung, für die hauptsächlich Enes zuständig ist. Damit spielten sie nicht schon in jedem Winkel Wiens live, sondern sind auch eine wichtige Stimme in lokalen und überregionalen Gesellschaftsfragen.

Zweites Wohnzimmer Ottakring
Die Texte von EsRAP drehen sich gemeinhin um Heimat, Identität, das Miteinander und ein Gefühl des Fremdseins im eigenen Land, weil man einer Gastarbeiterfamilie entstammt. Wenn bei EsRAP von Heimat die Rede ist, dann automatisch von Ottakring. Mit „OTK“ schrieb man dem 16. Wiener Gemeindebezirk gar eine Hymne auf den Leib. „Ottakring ist für mich wie ein zweites Wohnzimmer“, lacht Esra, „hier leben Menschen aus allen Ecken der Welt und es ist ungemein vielseitig. Zu Hause bin ich immer dann, wenn ich in den Gürtel hineinfahre.“ Bruder Enes sieht die Sache noch etwas lockerer. „In Ottakringer kannst du auch in der Nacht essen, das ist ein wichtiger Punkt. Wenn ich um Mitternacht noch Brot kaufen möchte, gibt es 24-Stunden-Bäckereien und ich muss nicht zur Tankstelle laufen. Dazu ist der Brunnenmarkt für mich das Herz von Wien.“

„…weil sie Wien nicht kennen“ ist der Name des dritten Albums des fleißigen Duos und einmal mehr steht das Leben in der Stadt im Mittelpunkt. „Ich habe an der Akademie der bildenden Künste studiert und kenne Wien aus unterschiedlichsten Sichtweisen“, erzählt Esra, „Wien hat aber so viele Seiten, die die meisten Österreicher nicht kennen. Zum Beispiel Sonderschulen, in denen viele Migranten mit besonderen Bedürfnissen sind. Viele Wiener kennen es auch nicht, von der Polizei aufgehalten zu werden, wo nicht nur der Fahrer, sondern alle im Auto ihre Ausweise zeigen müssen. Das passiert meinem Cousin sehr oft, der Araber ist und potenziell wie ein Flüchtling aussieht. Das mögen vielleicht Kleinigkeiten sein, aber sie gehören benannt und vielleicht halten wir den Leuten damit einen Spiegel vor.“

Familienbande
In Songs wie „Reden über Wien“, „Benzer brennt“ oder „Gastarbeiter“ gehen die beiden, die ihre Texte strikt getrennt voneinander schreiben und sich dann zur Feinjustierung treffen, manchmal scharf, aber immer fair und inklusiv mit der Stadt und ihren Eigenheiten um. „Fix zusammen“ ist man nun auch mit der Balkan-Sound-beeinflussten Heavy-Metal-Band Gasmac Gilmore, mit denen man schon vor vier Jahren erste gemeinsame Songs verfasste. „Über die Zeit entstand eine richtige Freundschaft. Enes und ich sind Geschwister, die Gasmacs sind Cousins. Bei uns allen ist das Familiäre wichtig und wir haben sehr ähnliche Lebensrealitäten - etwa, dass wir keine Drogen konsumieren.“ Den eher schüchternen Enes vermittelten Gasmac Gilmore, dass er ruhig öfter auf Türkisch singen sollte. „Das hat mir sehr viel Selbstbewusstsein und Kraft gegeben. Ich war mir oft nicht sicher, ob sie das auch mögen würden.“

Die türkischen und arabesken Einflüsse gestalten den Sound von EsRAP zu etwas völlig Unikalem. Mit „Aldirma Gönül“ befindet sich gar ein klassischer Song aus der türkischen Geschichte als Cover-Version auf dem neuen Album. „Das Lied stammt aus den 1930er-Jahren und wurde in den 1970er-Jahren durch einen türkischen Künstler bekannt, der politisch sehr weit links stand. Er wurde damals von der türkischen Regierung sogar verboten“, erklärt Enes, „übersetzt bedeutet der Titel so viel wie ,Kopf hoch‘, es ist ein Lied voller Hoffnung. Ein weiser Türke hat einmal gesagt, ein Mensch kann drei Tage ohne Trinken und zwei Wochen ohne Essen überleben, aber keine zwei Sekunden ohne Hoffnung.“ Die Hoffnung nach einem friedvollen und toleranten Miteinander steht ganz oben.

Umtriebig und aktiv
Auf ihrem Debütalbum „Tschuschistan“ haben EsRAP 2019 ebenjene Utopie erschaffen, in der alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Religion oder Nationalität gleich sind und dieselben Rechte haben. „Wir sind Tschuschen und stolz darauf, aber das heißt nicht, dass jeder einfach so Tschusch sagen darf“, bekräftigt Esra, „irgendwie wurde das Wort aber dann zu einer Selbstermächtigungshymne, mit der sich viele Leute in Wien in ihrer Realität identifizieren können. Außerdem war die politische Korrektheit vor vier, fünf Jahren noch nicht so fortgeschritten wie jetzt.“ Einspannen kann man Esra Özmen sowieso nicht. Sie zieht ihr Ding gnadenlos durch und ist umtriebig. So spielte sie bei den Wiener Festwochen, kuratiert den Wiener Kultursommer und 2021 mit „Fuzzman“ Herwig Zamernik das Wiener Popfest, unterstützte die Donnerstagsdemos gegen die rechtspopulistische Regierung und gibt Rap-Workshops für Jugendliche, in denen sie ihnen aufzeigt, dass man auch ohne Sexismus und Xenophobie erfolgreich rappen kann. 2017 bekam sie den Frauenring-Preis für „Rap als Widerstand“.

„Mit der Zeit kamen immer mehr Bio-Österreicher zu uns und haben gesagt, dass es schön ist, dass es uns gibt. Viele wissen ja, dass in Österreich viel schiefläuft. Sie sind vielleicht nicht unmittelbar von diesen Problemen betroffen, aber sie haben ein Bewusstsein dafür und finden es toll, dass wir etwas dazu sagen. Das finde ich wiederum sehr lobenswert.“ Nicht alle Texte von EsRAP sind automatisch politisch, aber eine gewisse Kante in die Richtung bleibe ohnehin nicht aus, so Esra. „Alles im Leben ist politisch. Es ist genauso politisch, wenn wir über uns und unsere Erfahrungen singen, wie wenn weiße Musikerinnen über die Liebe singen. Der Unterschied ist nur, dass die Politik, die wir in unseren Songs haben, politischer angesehen wird, als andere Themen. Manche Dinge laufen schlecht, aber es gibt Wege raus. Freunde und Communitys spenden Hoffnung. Auch wenn das System manchmal schlimm ist, aus seiner direkten Umgebung kann man immer Schönes herausholen.“

Livekonzert und große Pläne
Am 30. September spielen EsRAP mit Gasmac Gilmore ein großes Release-Konzert im Wiener Konzerthaus. Karten sind dafür noch erhältlich! Auch darüber hinaus hat man bereits diverse große Pläne. Zuvorderst möchte man ein gemeinsames Album mit Wiener Künstlern wie Voodoo Jürgens, Ernst Molden, Mira Lu Kovacs, Yasmo oder dem Nino aus Wien aufnehmen, aber auch eine Kooperation mit dem in Wien lebenden Pianisten und klassischen Musiker Marino Formenti, mit dem man im Radiokulturhaus auftrat, nimmt Formen an. „Viele sagen uns, wir sollten nur rappen“, sagt Esra, „das ist lieb gemeint, aber es würde mir zu viel Freiheit nehmen. Ich habe auch Bock auf die Wiener Musikszene, auf Klassik und auf Jazz.“ Enes denkt bereits ans Bewegtbild. „Eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm mit einem in Wien lebenden, türkischen Regisseur ist auch in Planung. Es gibt auf jeden Fall viel, das wir uns noch überlegen.“

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